Montreal ist eine Stadt der Gegensätze? »Ach was«, sagt Annique Dufour. »Allerdings haben wir hier den Boulevard St. Laurent als eine Art Demarkationslinie.« Westlich davon sprechen die Leute mehr Englisch. Im Osten der kanadischen Metropole hingegen spricht man halt Französisch. Gut, räumt die zweisprachig aufgewachsene Mittvierzigerin ein, die Wolkenkratzer der Innenstadt von Montreal unterscheiden sich mit ihrer typisch amerikanischen Architektur erheblich von der Altstadt, die eher europäisch anmutet. Und der 233 Meter hohe Mont Royal, seines Zeichens Namensgeber der Stadt, überragt das weitläufige Tal des Sankt Lorenz-Stroms weit.
Ach ja, und streng genommen existiere unter der für alle sichtbaren Stadt auch noch ein zweites Montreal für den Winter. Damit meint die temperamentvolle Frau ein weit verzweigtes System von Gängen und 1500 Geschäften, das große Teile der Innenstadt miteinander verbindet, ohne dass man je das Tageslicht erblicken müsste. Warum? »Naja«, sagt Dufour. »Im Sommer macht es Spaß, hier durch die Straßen zu laufen«. Im Winter hingegen, wenn wochenlang minus 20 Grad herrschen und ein eisiger Wind bläst, sei das kein Vergnügen.
Die Idee basiert auf einem Konzept des Architekten I.M. Pei. Der Baumeister mit chinesisch-amerikanischen Wurzeln hat in Montreal einen 47 Stockwerke hohen Wolkenkratzer errichtet. Trotz regelmäßiger Bezeichnung als Aushängeschild der Klassischen Modern ist der »Royal Bank Tower« aber allenfalls oberflächlich ein Zweckbau.
Sein kreuzförmiger Grundriss steht für die katholischen Wurzeln der Stadt. Von dieser spirituellen Extravaganz aber redet heute kaum noch jemand. Viel prägender war Peis Idee, die Nutzfläche des Wolkenkratzers auch unterirdisch fortzusetzen und damit die Keimzelle der zweiten Stadt zu schaffen. »Dadurch«, sagt Dufour, »können wir jetzt auch in der kalten Jahreszeit ein Leben führen, ohne durch Schnee und Matsch zu müssen.«
Montreal trinkt Wein am Mittag
Aber nicht nur deshalb ist Montreal anders als die anderen Metropolen Nordamerikas. Wer an einem Sommermittag als Europäer durch die Rue Saint Paul schlendert, meint unter Realitätsverlust zu leiden: Die Straßen der Altstadt sind mit Kopfsteinpflaster ausgelegt. Zahlreiche Bistros haben ihre Tische hinaus auf die Bordsteine gestellt. Auf ihnen ruhen Weinflaschen und Bierkrüge.
Die livrierten Kellner derweil servieren kein schnödes Fastfood, sondern Muschelgerichte, Foie Gras oder Hirsch-Tournedos. Dufour meint dies erklären zu müssen: »Wir genießen halt das.« Zum Beispiel auf der Dachterrasse des schicken Boutique-Hotels Nelligan. Mit Blick auf den mächtigen Sankt-Lorenz-Strom werden hier oben Cocktails und Käsevariationen aus Quebec serviert. »Wir«, das sind in dem Fall die vier Millionen Einwohner, die der Großraum Montreal inzwischen zählt. Zu großen Teilen auf einer Insel im mächtigen Sankt-Lorenz gelegen, kann die zweitgrößte Stadt Kanadas durch ihr Gründungsdatum im Jahr 1642 auch im internationalen Vergleich von sich behaupten, gehörig alt zu sein. Das macht Montreal nicht nur zum Stolz der gigantischen, französischsprachigen Provinz Québec, sondern beschert ihr rund ums Jahr staunende Besucher aus den nur 50 Kilometer entfernten Vereinigten Staaten von Amerika. »Die kommen, weil hier alles „sooo historic‘ ist.« Und vielleicht auch, weil die Franco-Kanadier so liberal sind, den Konsum alkoholischer Getränke schon 19-Jährigen gestatten.
Pannenhilfe im Stile Quebecs
Auf Drinks müssen Einheimische und Besucher bis spät in die Nacht nicht verzichten, denn als Reminiszenz an den alten Kontinent gibt es in der Provinz Quebec die »Dépanneurs«. Pannenhilfen also, die an die aus dem Rheinland bekannte Kioskkultur erinnern. Hinzu kommt ein sehr reges Nachtleben.
Die international bekannte Variante »sehen und gesehen werden« gilt im italienischen Restaurant „Bouillon Bilk“ am Boulevard St. Laurent. »Hier sehen die Kellnerinnen aus, als kämen sie gerade von einem Foto-Shooting mit Helmut Newton«, sagt Dufour. Wenn Top-Stars in der Stadt sind, mieten sie das ganze Lokal. Ein unprätentiöser Ausgeh-Klassiker, auf den sich viele Einheimischen einigen können, ist das »Foufounes Electriques« an der Rue Ste. Catherine Est. Hier scheinen leben die Jugendkulturen der letzten vier Jahrzehnte alle miteinander vereint.
Sylvain Lacoursiere sind die vielen Gegensätze und Besonderheiten seiner Heimatstadt etwas mehr bewusst. Der leicht melancholische Lehrer bevorzugt es, mit dem hippen Fahrrad durch Montreal zu fahren. Abgetrennte Wege entlang allen wichtigen Straßen gestatten das von April bis November überraschend problemlos. Gästen zeigt der 49-Jährige gerne die Kirche Notre Dame de Bon Secours aus dem Jahr 1771.
Der Sakralbau ist vom Ostende des Boulevard St. Laurent gut zu sehen. Er ragt am Übergang von Altstadt zu Hafen in den Himmel – und auf seinem charakteristischen Kuppeldach thront eine kulturhistorisch bedeutsame Statue: Es ist die »Lady of the harbour«, die der aus Montreal stammende Poet und Songwriter Leonard Cohen in seinem traurigen Evergreen »Suzanne« beschwört.
Boulevard der Einwanderer
Gegenwärtig blickt die ehrwürdige Dame auf Tretbötchen und immer häufiger auch auf Kreuzfahrtschiffe hinab, die sich den Strom hinaufwuchten. Nicht zuletzt deshalb ist die Uferpromenade von Montreal fest in Händen der Touristen. Das war nicht immer so, denn laut Lacoursiere haben hier bis weit hinein ins 20. Jahrhundert Matrosen gearbeitet. Viele von ihnen waren Einwanderer, die sich entlang des Boulevard St. Laurent niedergelassen haben.
Bis zum heutigen Tag zeugt ein Spaziergang in Ost-West-Richtung von der Reihenfolge, in der »The Main« (wie der Boulevard im Volksmund heißt) von den Immigranten aus aller Welt vereinnahmt wurde: Zunächst kamen die Chinesen, deren Viertel direkt an die Altstadt von Montreal anschließt. Apotheken mit landestypischer Medizin und Supermärkte mit einem typisch asiatischen Sortiment sind prägende Bestandteile des Stadtbilds. Es folgten die osteuropäischen Juden mit ihren gleichfalls unverwechselbaren Geschäften. Anschließend kamendie Italiener, die Portugiesen, die Griechen und zu guter Letzt die Einwanderer aus der Karibik. So ist die Siedlungsstruktur des Boulevards ein exakter Spiegel der Stadthistorie, weit weg von Bankenbauten und Museen von »Downtown«.
Eine Viertelmillion Studenten
Wie Sylvain Lacoursiere hervorhebt, sind Multikulturalität und Musik nicht die einzigen Vorzüge, die Montreal im Angebot hat: »Die Kriminalitätsrate ist im Vergleich zum Rest des Kontinents verschwindend gering. Und die Immobilienpreise sind vergleichsweise niedrig.« Eine Dreizimmerwohnung ist in guter Lage für unter 300 000 Euro zu haben.
Ein gutes Argument für junge Leute in diese Stadt zu ziehen, an deren vier Universitäten fast 250 000 Studenten eingeschrieben sind. Garanten für die Zufuhr guter Ideen und zugleich die Kundschaft für die Bars und Restaurants in der Rue St. Denis und im »Quartier Latin«.
Rauchfleisch und Kirsch-Cola
Zurück ins jüdische Viertel am Boulevard St. Laurent, wo eine Menschenmenge mit viel Geduld in einer Schlange ansteht. Es ist 12 Uhr mittags und sie alle wollen einen Platz bei »Schwartz‘ Delikatessen« ergattern. Ihr gemeinsames Ziel lautet: Ein Rauchfleisch-Sandwich ergattern, das hier in rauen Mengen mit Pommes Frites und gewöhnungsbedürftiger Kirsch-Cola gereicht wird. Noch so eine Eigenheit dieser charmanten Stadt. Im Lokal wird hektisch gebrabbelt, Französisch und Englisch durcheinander.
Ein freundlicher Mann namens Hugo Leclerc ruft quer über den Tisch, dass er schon jetzt darauf freue, wenn die Tage wieder kürzer werden. Nein, nicht weil er dann nicht mehr draußen sitzen könne, sondern weil dann die Saison der National Hockey League beginnt, in der die heiß geliebten Montreal Canadians spielen. Auf »Les Habitants« (die Einheimischen) können sich so gut wie alle Bewohner dieser Stadt einigen. Trotz der vielen Gegensätze.
Weitere Informationen Zu Montreal
Anreise: nonstop über München (Lufthansa) oder Frankfurt (Lufthansa, Air Canada). Vom Flughafen Trudeau in die Stadt dauert es mit dem Taxu etwa 30 Minuten (etwa 5 0 kanadische Dollar)
Quer durch die Stadt: am besten zu Fuß, mit der Metro oder mit dem praktischen Fahrradverleihsystem »Bixi«
Beste Reisezeit für Montreal
Mai bis Oktober, im Hochsommer kann es deutlich über 30 Grad werden, sehr kalte aber nicht sehr schneereiche Winter.
Übernachtungstipps für Montreal
Hotel Nelligan (106 Saint-Paul Street West, DZ ab 120 Euro) mitten in der historischen Altstadt in einem restaurierten Backsteinbau. Die hübsche Dachterrasse ist ein beliebter Ort für die »Cinq á sept«, das Äquivalent zur Happy Hour. Le Petit Hotel (168 Rue Saint-Paul Westm DZ ab 120 Euro), ebenfalls in der Altstadt gelegen und hübsch modernisiert, nur eine Nummer kleiner.
Essenstipps für Montreal
Besonders hübsch ist im Sommer das Bistro »Boris« (465 McGill Street), das einen großen Innehof hat; Buonanotte (3518 Boulevard St. Laurent), italienisches Lokal mit hohem Promi-Aufkommen und gediegener Küche.
Die größte regelmäßige Veranstaltung ist das Montreal Jazz Festival (2012 vom 28. Juni bis zum 7. Juli). Immer dann treten bis zu 3000 Künstler in der Stadt auf, die kostenlosen Konzerte auf der Place des Festivals werden von mehr als 100 000 Menschen besucht.
Ralf Johnen, aktualisiert im April 2021. Die Reise wurde vom Kanadischen Tourismusbüro (CTC Deutschland) unterstützt.
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