Ich besitze ein Faible für mittelgroße Städte. Nur diese können gleichzeitig aufregend und unaufgeregt sein. Das trifft hauptsächlich dann zu, wenn sie auf eine lange Geschichte zurückblicken und einem offensichtlich unumgänglichen Strukturwandel nicht aus dem Weg gehen. Erfahrungsgemäß gelingt das mit Hilfe vieler junger Bewohner und einem stattlichen Kulturetat am besten. Ein attraktives Umland mit hohem Freizeitwert kann auch nicht schaden.
So gesehen war ich neugierig auf Ostrava. Die nach Prag und Pilsen drittgrößte Stadt Tschechiens dürfte auf kaum einer sogenannten »Bucket-List« auftauchen (darunter verstehen vermeintlich zeitgemäße Menschen die Instagram-optimierten Traumziele dieses Planeten, die sie mechanisch abarbeiten, um ihre mit Hilfe einschlägiger Software aufgehübschten Körper publikumswirksam zu inszenieren). Allenfalls die Fans von Fußballmannschaften, deren Schicksal es ist, Jahr für Jahr in der Europa-League um Trostpreise zu spielen, dürften schon mal von Banik Ostrau gehört haben. So auch lautet der Name der Stadt auf Deutsch.
Pop zwischen Fördertürmen und Hochöfen
Anlass der Reise ist das Festival »Colours of Ostrava«, das sich in jüngerer Vergangenheit scheinbar einen guten Namen gemacht hat. Zu Recht, so viel sei vorab verraten. Das Line-up ist toll. Das zwischen stillgelegten Fördertürmen und Stahlhütten gelegene Festival-Gelände ist spektakulär.
Es laufen kaum eitle Selbstdarsteller herum, die alles direkt online stellen müssen. Überhaupt sind die Leute enorm freundlich. Und noch dazu sind die Preise für Tickets und Catering aus Sicht des Zentraleuropäers sehr human. Ideale Voraussetzungen, während der vier Tage meines Aufenthalts einen altmodischen Plan umzusetzen: relativ früh aufstehen, tagsüber Stadt und Umgebung erkunden – und am Abend möglichst viele Bands sehen.
Anders als in den Jahren zuvor, hat sich ein hartnäckiges Tiefdruckgebiet über dem Ostzipfel Tschechiens festgesetzt, dessen Launen nicht ohne Folgen für den Ablauf der kommenden Tage bleiben. Ich beschließe indes, den Kapriolen zu trotzen und mir zunächst den örtlichen Vulkan anzusehen, dessen Gipfel 315 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Vereinzelt dampft und zischt es auf dem Rücken des Berges. Die Luft weist Spuren von Schwefel auf. In der Ferne sehe ich eine Stadt mit vielen Plattenbauten und Industrieanlagen, die in üppiges Grün eingebettet ist. Dazwischen einige Kirchen mit zwiebelförmigen Türmen.
Ich denke: Das Panorama ist ein repräsentativer Spiegel der Geschichte. Barocke Ambitionen, der Ehrgeiz der Schwerindustrie und die Narben des Kommunismus dicht beieinander. Der Vulkan ist weniger ehrlich: er ist in Wahrheit eine Halde aus Industrieabfällen, die weit unter der Erde auch nach Jahren noch brennt.
Die Oder: von Ostrava zur Ostsee
Ostrava weiß um sein Erscheinungsbild. Ohne die Notwendigkeit zu sehen sich zu verstecken müssen, hat man sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Die Stadtvorderen möchten die 300 000-Einwohnerstadt zur grünsten des Landes machen. Nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich. Radfahrer und Fußgänger haben in der Zukunftsplanung Priorität. Man hat verstanden, was die meisten Kreativen unserer Zeit mögen. Zum Angebot gehört auch ein schiffbarer Fluss, auf dem ich mir ein Kanu miete. Es ist die Odra, die hier noch junge Oder, die sich von Ostrava aus ihren Weg zur Ostsee bahnt. Der Fluss markiert zugleich die Grenze zwischen Schlesien (am Westufer) und Mähren.
Am Abend geht es mit der himmelblauen Straßenbahn zum Festival-Gelände in Vítkovice, dem Malocherstadtteil. Hier haben Fördertürme und Schlote Gesellschaft erhalten von einem Wissenschaftsmuseum (Svět techniky) und einem tollkühnen Gebäude, dem Usain-Bolt-Tower. Das ist ein 78 Meter hoher Hochofen, dessen Innenleben ausgehöhlt und zu einem Aussichtturm mit Bar transformiert wurde – mit freischwebenden Gittern als einzigem Weg zur Spitze. Während erste Bands spielen, schaue ich mir das Konstrukt aus sicherem Abstand an.
Colours of Ostrava: Oblaten und Tame Impala
Später finde ich mit meinen Mitreisenden Kai und Alexander ein gutes Restaurant: Scansen, wo moderne skandinavische Küche weit abseits vom Ikea-Mainstream serviert wird. Eine echte Überraschung, ebenso wie der tschechische Wein aus dem Hause Kambrium. Im strömenden Regen stranden wir schließlich in der Straße Stodolní, Ostravas Version der Reeperbahn, wo es viele Kneipen mit zum Teil wenig subtilen Namen gibt.
Am nächsten Tag sehe ich mir das örtliche Bergbaumuseum an. Ich besteige den Turm des Rathauses und durchstreife die älteren Stadtviertel. Ich hole das Festival-Ticket ab (ohne Hektik, dafür mit einem Lächeln) und inspiziere das nunmehr vollständig eingerichtete Gelände mit seiner Bühnenlandschaft und einigen interessanten Street-Food-Buden (Oblaten!). Bester Auftritt: die formidablen Tame Impala aus meiner ewigen Sehnsuchtsstadt Perth (Australien) mit ihrem neopsychedelischen Pop.
Wandern im slowakischen Grenzgebiet
Nach dem Pop folgen die Outdoor-Stunden. Konkret geht es ins polnisch-slowakische Grenzgebiet, wo sich etwa 40 Kilometer südöstlich der Stadt mit dem Prašivá ein veritables Mittelgebirge aufbaut. Der höchste Gipfel ist 837 Meter hoch, was in etwa dem Sauerland entspricht. Der Weg dorthin führt sanft hinauf, vorbei an Weizenfeldern, Bergblumen und durch dichten Wald.
Auf dem Rückweg suche ich den Hauptsponsor der Colours of Ostrava auf, die Brauerei Radegast. Jedem Deutschen fällt dazu direkt ein Schüttelreim ein. Doch das alleine würde dem Bier nicht gerecht. Es ist nach einer slawischen Gottheit benannt und überzeugt durch herbe Hopfenaromen. Auf dem Festival-Gelände wird der halbe Liter später für etwas mehr als einen Euro verkauft.
Eine Nacht im Techno-Zelt
Das Konzert von Anohni ist Highlight des Abends. Es ist bewegend und zugleich überzeugend. Politische Texte, kühle Beats und dazu eine melodramatische Multimedia-Inszenierung.
Mutig auch von der transsexuellen Künstlerin hier aufzutreten, gelten weite Teile des Ostens doch als homophob. Nicht so das Publikum in Ostrava. In der Nacht finde ich mich im Techno-Zelt wieder. Zu den Details verweigere ich die Aussage.
Den Wecker höre ich nicht auf Anhieb. Auf dem Weg zum Frühstück aber spüre ich schwere Beine. Dabei besagt mein Plan, dass ich vor Tag vier des Festivals die Kleinstadt Štramberk besuche. Eine Burg, verwinkelte Gassen, ein großzügiger Marktplatz und bunte Bauten aus vergangenen Jahrhunderten. So sieht wohl ein klassischer Touristenort auf Mährisch aus. Ich versuche Oblaten (schon wieder) und das vorab angepriesene Heidelbeerbier zu bestellen, was auf Englisch misslingt, aber zu guter Letzt auf Deutsch klappt. Der Gerstensaft ist köstlich.
Begegnung mit Usain Bolt
Mein Besuch des örtlichen Badesees fällt leider ins Wasser. Schließlich ist es kaum über 10 Grad warm an diesem Samstagmittag – und es regnet was das Zeug hält. Dafür entschließe ich mich am frühen Abend endlich dazu, den Bolt-Tower zu besteigen. Ich liefere mich den Rechen- und Baukünsten der Ingenieure aus, überwinde einen Tatterich, um mich bestandener Mutprobe überdurchschnittlich lang an verschiedenen Bars aufzuhalten.
Der Hasardeur will belohnt werden. Das Programm hat an diesem Tag seine Längen, was mich daran erinnert, wie gerne ich am Sonntag Underworld, Giant Sand und Slowdive gesehen hätte. Doch so lang ist das Wochenende leider nicht.
Was bleibt, ist die angenehme Bestätigung einiger Vermutungen: in diesem Teil von Europa gibt es vieles zu entdecken. Ich könnte mir dementsprechend auch einen Roadtrip durch Polen, Tschechien und die Slowakei vorstellen. Die Leute sind aufgeschlossen und freundlich. Kulinarisch geht es stetig bergauf. Das Bier ist ohnehin grandios. Die Preise sind gemessen an den zentraleuropäischen Metropolen niedrig. Und: Das Festival »Colours of Ostrava« kann es mit jedem anderen aufnehmen.
Informationen zum Festival Colours of Ostrava
Das Festival Colours of Ostrava findet in diesem Jahr vom 19. bis 22. Juli statt. Auf 20 Bühnen stehen 350 Künstler, darunter Justice, Digitalism, Moderat und Alt-J. Tickets für alle vier Tage kosten ab 114 Euro, wobei der Kauf eines VIP-Tickets für 195 Euro eine reizvolle Option ist. Es gewährt Zugang zu Zelten mit Sofas und Weinausschank sowie kurze Schlangen bei Toiletten und Zapfanlagen.
Anreise Ostrava befindet sich 350 Kilometer östlich von Prag und 570 Kilometer südöstlich von Berlin. Die Anreise per Auto ist unkompliziert. Auch wird der Airport von Czech Airlines angeflogen – inklusive Anschluss ab vielen deutschen Flughäfen (Preis etwa 250 Euro, www.csa.cz). Mit der Bahn geht es ab Berlin in 7,5 Stunden nach Ostrava (Sparpreis ab 50 Euro pro Strecke), ab NRW sieht die Sache mit einer Reisezeit von wenigstens zwölf Stunden nicht so günstig aus.
Unterkunft Geschlafen habe ich meistens im Harmony Club Hotel. Eine beinahe sachliche Unterkunft, recht spartanisch, sauber und preiswert (um die 50 Euro für das Einzelzimmer mit Frühstück). Zu Fuß dauert es etwa eine halbe Stunde zum Festival-Gelände. Näher in der City ist das Hotel Ruby Blue.
Essen und Trinken Das Scansen ist ein schickes Restaurant mit sichtbarem Schwerpunkt auf Design und skandinavischer Küche. Zámecká 17, Di–Sa 11.30–22.30 Uhr, www.scansen.cz. Das Hogofogo Bistro ist ein modernes Bistro zwischen Burger-Küche und Neuinterpretation der Regionalküche, gutes Craft Beer. Chelčického 531/3, Mo–Fr 11.30–22 Uhr, www.hogofogobistro.cz)
Text und Bilder (bis auf eine Ausnahme): Ralf Johnen, zuletzt aktualisiert im Mai 2021. Der Autor war auf Einladung unter anderem der Tourismusbüros von Ostrava und der Tschechischen Republik vor Ort.
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