Jedes Jahr im Oktober versammeln sich rund 1000 Eisbären an der Hudson Bay in Kanada. Sie warten darauf, dass das Gewässer zufriert, damit sie sich auf die Jagd machen können. Doch ihr Zeitfenster wird immer kleiner.
Bob Windsor ist kein Hasenfuß. Er ist in der kanadischen Wildnis aufgewachsen und bezeichnet sich selbst als Trapper. In seiner Freizeit jagt er Vielfraße. Hauptberuflich ist er einer von sechs „Natural Resource Officers“, einer Behörde, die sich eigentlich dem Umweltschutz verschrieben hat, die aber in dem kleinen Dorf Churchill zugleich als Eisbärenpolizei fungiert. Die Begegnung, die Windsor dort Ende Juni hatte, wird er so schnell nicht vergessen: „Ich hatte Angst. Und zwar richtig.“ Die Beulen an der Frontpartie seines Pick-ups zeugen bis heute von dem Zwischenfall. Ein aggressiver Eisbär hatte stundenlang die Straßen des 800-Einwohnerdorfes unsicher gemacht.
Mehrfach war bei der 24-Stunden-Hotline 675-BEAR ein Alarm eingegangen. Windsor (59) musste eingreifen, als das Tier ins Krankenhaus einzudringen drohte: „Ich habe versucht, den Bären mit dem Wagen zu verjagen.“ Doch das 300 Kilo schwere Tier ging zum Gegenangriff über. Windsor blieb keine andere Wahl, als den Bären zu erschießen.
Die Eisbären an der Hudson Bay sind aggressiver als sonst
Drei solcher Vorfälle hat Windsor in einem einzigen Winter erlebt: „Die Tiere sind aggressiver als in anderen Jahren.“ Auch kommen sie früher. Diesmal konnte sie das Eis der Hudson Bay schon am 24. Juni nicht mehr tragen. Noch vor Jahren galt die erste Juliwoche als Zeitpunkt für den sommerlichen Landgang. Schuld daran, sagt Windsor, ist der Klimawandel.
Doch ob auch die Aggressivität mancher Bären darauf zurückzuführen ist, vermag er nicht zu sagen. Immerhin mussten zuletzt in einigen Wintern keine Tiere erschossen werden. Tote Eisbären werden hier, 1800 Kilometer nördlich von Winnipeg, nicht gerne gesehen. Nachdem die Navy 1969 ihre Basis aufgegeben hatte, war es zunächst traurig bestellt um Churchill. Das Dorf ist nur per Eisenbahn und Flugzeug mit dem Rest Kanadas verbunden. Es gibt bis heute keinen Mobilfunkempfang. 1979 begann zaghaft der Eisbärentourismus.
Drei Paprikas für zehn Dollar
Seitdem fällt von Ende Oktober bis Anfang Dezember eine kleine Besucherschar ein. In dieser Zeit müssen die Einheimischen genug Geld verdienen, damit sie die teuren Lebensmittel bezahlen können. Drei Paprikaschoten kosten im einzigen Supermarkt zehn Dollar. Es war die Erfindung des Tundra Buggy, die Churchill zu jenem unwahrscheinlichen kanadischen Touristenziel gemacht hat, das es heute ist.
Das zumindest behauptet George Crombie, der als Chefmechaniker bei dem gleichnamigen Unternehmen arbeitet. Bevor der 54-Jährige Haudegen in den Norden der Provinz Manitoba kam, war er für das Militär in Afghanistan. Er und sein Team warten eine Flotte grobschlächtiger Gefährte, in denen Touristen durch den borealen Nadelwald kutschiert werden. Wenn Crombie den Fuhrpark inspiziert, trägt er Gewehr und Patronengurt. Afghanistan lässt grüßen.
Bis zu 13 Tundra Buggys sind in der Hochsaison gleichzeitig im Einsatz. Hinzu kommen die Gefährte eines Konkurrenten. Wundert sich jemand, dass all dies als Öko-Tourismus verkauft wird, wendet Crombie ein: „Wir sind ausschließlich auf alten Militärrouten unterwegs.“ Rund ein Dutzend Eisbären sind während der siebenstündigen Expedition zu sehen.
Wer den teuren Trip in den Norden bucht, bekommt also mit ziemlicher Sicherheit einige der weltweit nur noch rund 25 000 Eisbären vor die Linse. Rundum Churchill warten im November etwa 950 Tiere darauf, dass die Hudson Bay zufriert. Danach brechen sie zur Robbenjagd gen Norden auf. Der Ästhetik einer Tier-Doku aber will die Szenerie nicht so recht entsprechen: Viele Bären haben ein schmutziges Fell. Und richtig winterlich ist auch die Landschaft nicht.
Jagdhütte für Naturfreaks
Deutlich abenteuerlicher ist die Begegnung mit den größten Landraubtieren des Planeten in Gegenwart von Terry Elliott. 40 Kilometer westlich von Churchill führt der bärtige Naturfreak Wanderer durch die Tundra. Ausgangspunkt ist die Dymond Lake Lodge. Die ehemalige Jagdhütte, die nur auf dem Luftweg erreichbar ist, wird von zwei Eisbären förmlich belagert. Mal schleppt sich das Mutter-Kind-Paar behäbig über einen zugefrorenen Binnensee. Dann wieder lassen sich beide am Zaun nieder, der das Hauptgebäude vor den Bären schützt.
Einmal tapst das Junge gar die vier Stufen zu einem Schlafgemach hinauf. Mensch und Eisbär sind nur durch eine Holztür voneinander getrennt. Die sieben Bewohner machen Fotos. Sie wissen jetzt, warum sie ihr Domizil auf keinen Fall ohne bewaffneten Beistand verlassen dürfen.
Die Fettpolster der Eisbären an der Hudson Bay werden dünner
Morgens um 9 Uhr holt Terry, der im Sommer Grizzly-Touren in British Columbia begleitet, die Wanderer in der Hütte ab. Heute erläutert er die Charakteristika des Ökosystems, verteilt angefrorene Blaubeeren, die er vom Boden pflückt. Die Eisbären, sagt er, haben sich in diesem Jahr mehr als sonst an den Früchten gelabt.
„Vielleicht spüren sie, dass es ein schwieriger Winter wird.“ Womöglich wird das Eis noch ein paar Tage früher schmelzen. Dann können die Bären weniger Robben jagen, von denen sie im Schnitt zwei pro Woche vertilgen. Die Fettpolster für den Sommer wären entsprechend dünner. Und womöglich müssen die Bären noch früher in Churchill auf Nahrungssuche gehen. An diesem Morgen stehen Mutter und Kind nur ein paar Schritte abseits des Weges. Plötzlich wird Terry nervös: Der junge Bär kommt auf die Gruppe zu.
Terry richtet sich auf. Laut sagt er: „That’s enough.“ Dann greift er in die Jackentasche, um einen Stein herauszuholen. Wirft er damit, reicht das meistens, um einen Eisbären abzuschrecken. Wenn nicht, hat er eine Schreckschusspistole und Pfefferspray dabei – und für den Notfall ein Schrotgewehr, das er aber in 20 Jahren noch nie einsetzen musste.
Ein Pakt zwischen Mensch und Raubtier?
Existiert also am Ende doch ein stilles Abkommen zwischen Mensch und Raubtier? „Da würde ich mich nicht drauf verlassen“, sagt Terry. Zwar sind die Bären an Menschen allenfalls mäßig interessiert. Doch im Norden Manitobas sind Attacken keine Seltenheit, auch wenn es schon lange keinen tödlichen Zwischenfall mehr gegeben hat.
Später liegen die Bären entspannt in einer Schneeverwehung. Terry macht auf die grünen Markierungen aufmerksam, die am Fell von Mutter und Kind zu sehen sind. Es sind die Erkennungszeichen dafür, dass auch sie bereits in Churchill auffällig geworden und betäubt worden sind. Für solche Fälle hat Windsors Bärenpolizei ein Resozialisierungsprogramm entwickelt: Die Tiere werden in einer Lagerhalle am Flughafen einquartiert, dem weltweit einzigen Eisbärengefängnis.
Ohne Futter müssen sie notfalls so lange ausharren, bis die Hudson Bay zufriert. Alternativ werden sie in einem Netz per Helikopter ausgeflogen – auch in die Nähe der Lodge. Ein Ereignis, dessen Häufigkeit zunehmen wird, je öfter sich Mensch und Eisbär in die Augen blicken.
Weitere Informationen über die Eisbären an der Hudson Bay
Der Veranstalter Windrose bietet Reisen in die Dymond Lake Lodge an. Die Unterkunft liegt 40 Kilometer westlich von Churchill ist nur auf dem Luftweg erreichbar. 8 Tage kosten ab 6990 Euro. Individuell und günstiger kann der Trip über das Tourismusbüro der Provinz Manitoba gebucht werden. Die Tundra Buggys werden heute vom Anbieter Frontier North betrieben. Individuelle Eisbärensafaris sind über Churchil Wild buchbar. Wer sich für Eisbären interessiert, kann vielleicht auch einer Geschichte über Eisbrecher etwas abgewinnen.
Text und Bilder: Ralf Johnen, aktualisiert im Mai 2021.
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[…] Canadian Tourism Commission in Edmonton. Als Resultat der Go Media bin ich schon im Oktober 2011 in Manitoba auf Eisbärenexpedition gegangen. Und ich freue mich auf weitere […]
[…] Canadian Tourism Commission in Edmonton. Als Resultat der Go Media bin ich schon im Oktober 2011 in Manitoba auf Eisbärenexpedition gegangen. Und ich freue mich auf weitere […]
[…] Der geliebte Feind: Die Eisbären an der Hudson Bay in Kanada. […]
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