Über den ersten ist alles gesagt. Doch der zweite Goldrausch von Dawson City ist noch immer nicht vorbei. Dabei gibt der Permafrostboden kuriose Nebenprodukte wie Mammutzähne frei. Ein Ortsbesuch.
„Wunder dich nicht, wenn es hier ein bisschen komisch riecht“, sagt Justin. Doch ich höre ihn kaum, während ich im Dreck stehe und mich etwas versonnen umblicke. Ich habe noch nie vor einer solchen Wand gestanden. Eine Wand aus Permafrostboden, der langsam auftaut. „Das ist nur die Mammutscheiße“, ergänzt Justin. Und das höre ich sehr wohl.
Der Backenzahn eines Mammuts
Bevor ich auch nur einen Hauch von Zweifel anmelden kann, streckt Justin mir einen recht klobigen und nur leicht verwitterten Gegenstand entgegen. Auch ohne Vorwarnung hätte ich diesen spontan als Backenzahn eines Mammuts identifiziert. Uns so war es auch.
„Du glaubst mir nicht, wie?“, sagt Justin. „Doch, doch“, antworte ich. Eiszeit, Beringstraße, überdimensionierte Säugetiere. Da war irgendwas. „Riecht intensiver als Pferdemist“, sage ich unsicher. „Irgendwie modrig.“ „Kein Wunder“, meint Justin voller Freude über meinen Versuch einer Expertise. „Ist ja auch über 20 000 Jahre alt.“
Ziemlich beeindruckt stapfe ich weiter durch den fast schwarzen Schmodder. Vor der Bruchkante stehen ein paar verwitterte Maschinen herum, die ganz offensichtlich dazu gedacht sind, den gefrorenen Boden aufzureißen. Weiter oben sehe ich schmächtige Nadelbäume. „Schau mal da“, sagt Justin und zeigt auf eine Schubkarre. „Stammt auch alles von Mammuten.“ Kauleisten, Knochenstücke und Stoßhörner. Das gibt mir den Rest. Erst später fällt mir ein, dass damit eine Option für eine Schlagzeile in Gefahr gerät: „Auch Kleinvieh macht Mist.“ Das will angesichts der Mammutsituation nicht mehr so richtig passen.
Steinzeitfäkalien im Permafrostboden: Der zweite Goldrausch von Dawson City
Ich stehe 30 Kilometer außerhalb von Dawson City in Yukon am Gold Bottom Creek. Eigentlich möchte ich über den neuen Goldrausch schreiben. Eine mühsame Angelegenheit, habe ich mir sagen lassen, weil die ersten Generationen nicht viele mit bloßem Auge erkennbare Nuggets übrig gelassen haben. Stattdessen werde ich mit der Aromapalette von Steinzeitfäkalien konfrontiert. Ich bin konsterniert.
Trotz der offenkundigen Ablenkung entgeht mir nicht, wie Justin ein wenig lakonisch von der Arbeit berichtet, der sein Vater und er am Gold Bottom Creek nachgehen. „Das hier ist kein »job«, sondern eher ein »way of life«.
Eine begründete Hoffnung auf schnellen Reichtum hegen die beiden nicht, denn Gold kommt nicht nur auf ihren Parzellen höchst spärlich vor. Zudem ist die Spülmaschine, für die sie einst 100 000 Dollar bezahlt haben und durch die sie seitdem das Erdreich jagen, altersschwach und reparaturanfällig. Und die Lebensumstände hier oben im Yukon sind extrem.
Die nächste richtige Stadt ist Anchorage – in 800 Kilometern Entfernung
Klar, im Sommer kann es herrlich sein. Über 30 Grad warm, und die Tage scheinen nicht zu enden. Die Winter aber sind mit Temperaturen von bis zu minus 55 Grad lang und garstig. Die nächste richtige Stadt befindet sich mit Anchorage in mehr als 800 Kilometern Entfernung in Alaska. Bis in die lebensfreudige Metropole Vancouver sind es gar fast 3000 Kilometer. Unüberbrückbar mit dem Auto – und ein teurer Spaß mit dem Flieger. Aber, wie Justin sagt, es ist eben ein „way of life“.
Von Mai bis September auch kommen die Touristen. Schließlich ist Dawson City ein Mythos: Nachdem 1896 die Nachricht von ersten Goldfunden die Runde machte, wuchs dort, wo der Klondike River in den Yukon River mündet, innerhalb von nur zwei Jahren eine Stadt mit 40 000 Einwohnern heran. Jack London verschaffte Dawson City als „Paris des Nordens“ Weltruhm. Insgesamt sollen an die 100 000 Menschen versucht haben, in irgendeiner Weise vom Klondike Goldrausch zu profitieren – den größten Run auf das Edelmetall, den die Menschheitsgeschichte je gesehen hat.
Todesstoß für das erste Dawson City im Yukon
Als die Funde bald darauf weitgehend erschöpft waren, wurde jedoch schnell klar, dass sich eine Stadt in dieser Größenordnung im kontinentalen Klima unweit des Polarkreises nicht würde halten können.
Mehr als ein Jahrhundert später ist Dawson City ein kleines, kompaktes Dorf mit nur 1300 Einwohnern, dessen Nordsüdausdehnung mit viel gutem Willen anderthalb Kilometer beträgt. Die Locals treffen sich am liebsten in der „Drunken Goat Taverna“, einem griechischen Restaurant, dessen Wände mit Gemälden von Ikonen des amerikanischen Show-Geschäfts verziert sind.
Hier dauert es nicht lange, ehe ich mit Shelley ins Gespräch komme –„beautiful Shelley“, wie mir eine Tischnachbarin verrät. 1976 ist sie als Cancan-Girl nach Dawson City gekommen, um fortan im örtlichen Casino aufzutreten. In den Sommermonaten wird in dem Holzschuppen bis heute an die von Glücksspiel und Tanz geprägte Freizeitgestaltung der Pioniere erinnert.
Der zweite Goldrausch in Dawson City: Claims zum falschen Zeitpunkt verkauft
Ohne dass ich Anstalten gemacht hätte, sie danach zu fragen, verrät mir Shelley, dass ihr Mann Goldgräber war. Beide gemeinsam haben im Yukon „eine Menge Kohle gemacht“. Nicht so viel, dass sie sich eine Insel davon hätten kaufen können, in gemäßigterem Klima, versteht sich. Aber immerhin, es geht ihnen gut. Sie selbst hat sich in ihrem dritten oder vierten Leben eine Existenz als Multimediakünstlerin aufgebaut. Ihr Mann allerdings sei recht launisch, seit er seine Claims 2007 verkauft hat.
Vor gut zehn Jahren war es besonders schlimm: Mitte 2011 schnellte der Preis für eine Unze Feingold als Spätfolge der Bankenkrise in ungeahnte Höhen. Erst über 1500 US-Dollar, dann, Ende des Jahres, kratzte er gar an der magischen Grenze von 2000 Dollar.
Das Edelmetall war als Kapitalanlage so wertvoll wie nie. Und der Yukon war abermals von einem Rausch erfasst. Bei diesem Preis würden sich die Mühen und Entbehrungen wieder lohnen – obwohl die Abenteurer wussten, dass sie sich mit Resten würden begnügen müssen. Dennoch sollte es nicht lange dauern, bis um Dawson City herum wieder 100 000 Lizenzen für die Ausbeutung des Erdreichs vergeben waren.
Die Familie geht leer aus
Wie mir Justin Millar, der kräftige Abenteurer vom Gold Bottom Creek, erklärt hatte, handelt es bei den sogenannten »creek claims« um ein 500 Fuß breites Areal, das an einem Fluss oder Bach gelegen ist. Die weniger begehrten »bench claims« hingegen haben keinen Kontakt zum Wasser – und beinhalten somit auch kein Schürfrecht. Die systematische oder industrielle Ausbeutung des Landes indes bleibt schwierig, da pro Jahr und Person nur ein Claim vergeben wird.
Über die Jahre hinweg hat Justins Familie es auf immerhin 70 Claims gebracht. Um die Rechte zu behalten, müssen sie Jahr für Jahr nachweisen, das Äquivalent von 14 000 Kanadischen Dollar an Arbeitszeit in die Grundstücke zu investieren. Die Mühen können sich lohnen. „Mein Großvater“, sagt Justin, „hat innerhalb weniger Tage 400 Unzen Gold gefunden und 160 000 Dollar gemacht“. Das Geld hat der Senior verjubelt. Begründung: „It’s my money“. Der Rest der Familie ging leer aus.
Meistens aber ist das Geschäft laut Justin undankbar. Die Funde müssen kostspielig nach Toronto gebracht werden, wo sie raffiniert werden. Von den Erlösen gehen 30 Prozent an die Einkommenssteuer, hinzu kommen 14 Prozent Tantiemen. Die Maschinen leiden unter dem Klima und sind ständig defekt. Außerdem müssen die Arbeiter bezahlt werden.
Sauvignon Blanc aus Neuseeland
Und nicht zuletzt kann ohnehin nur von Mai bis September nach Gold gesucht werden, in den übrigen Monaten erholt sich der Permafrostboden. Selbst wenn man vordergründig glaubt, im Laufe einer Saison einiges verdient zu haben, bleibt unter dem Strich nicht viel übrig. „Mit den Touren über unser Anwesen“, sagt Justin, „verdienen wir mehr“.
In der Taverna lacht Shelley über die anhaltenden Lamentos ihres Mannes. Dabei fließt der Sauvignon Blanc aus Neuseeland in Strömen. Auch so ein Indikator dafür, wie sehr sich das Leben selbst in Dawson City geändert hat. Nicht einmal die Einsamkeit scheint im hohen Norden ein Faktor zu sein: „Über Facebook habe ich ständig Kontakt mit unseren Freunden in Berlin“, sagt Shelley. Auch die Familie sei immer in Reichweite, seitdem im Yukon das Internet schneller geworden ist.
Lässt es sich also in der Wildnis genauso gut leben, wie überall auf Erden? Shelley überlegt einen Moment. Unweigerlich kommt sie dann auf den Winter zu sprechen. Den März möge sie ja, wenn die Tage wieder länger werden. Aber im Januar und Februar müsse sie einfach verreisen, wegen der „Dunkelheitsallergie“.
Der Sour-Toe-Cocktail
Ich überlege noch, was sie damit wohl meinen könnte, als Shelley mir Aufschluss gewährt. Wer monatelang mit denselben 1300 Leuten auf einem Flecken hänge, und wo es von Downtown bis in die Suburbs nur acht Blocks seien, müsse man ja depressiv werden. „Jeder kennt jeden. Schon wenn ein Auto vor dem falschen Haus parkt, gilt das als Zeichen für Betrug.“
Der Stimmung in der griechischen Taverne scheint dies zumindest heute keinen Abbruch zu tun. Ich verabschiede mich von Shelley mit dem Hinweis, dass ich mir nun ihre alte Wirkungsstätte ansehen werde. Vorher allerdings schaue ich noch kurz im Downtown Hotel vorbei, wo mit einigem Erfolg der Sourtoe-Cocktail ausgeschenkt wird.
Can-Can im Saloon von Dawson City
Ich schreite durch eine Saloon-Türe in die Hotelbar, die von reichlich Patina zehrt. In einer Ecke sitzt ein Zeremonienmeister, der das immer gleiche Ritual vollzieht: In einen gewöhnlichen Cocktail nach Wahl wird ein in Formaldehyd eingelegter Menschenzeh versenkt.
Wer diesen – unter hysterischem Gekreische und flankiert von einem Blitzlichtgewitter – mit den Lippen berührt, wird in den Sourtoe Cocktail Club aufgenommen.
Ich verzichte auf die Ehre und begebe mich stattdessen in Diamond Tooth Gertie’s Gambling Hall. Das älteste Casino Kanadas lässt schon seit 1971 die alten Klondike-Zeiten wieder aufleben – und die stilecht gekleideten Cancan-Girls sorgen dafür, dass auch die Paris-Analogie hier nicht vermessen scheint.
Der zweite Goldrausch in Dawson City riecht merkwürdig
Während die Beine durch die Luft wirbeln, tanzen ein paar Jünglinge aus Ontario auf ihren Barhockern. Am Ende der Saison ist am Ende der Welt eben alles erlaubt. Nachdem ein paar ältere Herren mit blaugrauen Haaren schöne Minuten auf der Bühne verbringen durften, erscheint ein Adonis auf dem Podium, der eine nicht ganz schlechte Disco-Fox-Version von Neil Youngs „Heart of Gold“ zum besten gibt.
Besser kann es nicht werden, denke ich, und gehe. Obwohl es 23 Uhr an einem Septemberabend ist, liegt ein dramatisch eingefärbter Lichtschweif über den Horizont. Ich friere ein wenig – und bei dem Gedanken an die Temperaturen der kommenden Monate wird mir noch kälter. Nach ein paar Metern bleibe ich stehen. Es riecht merkwürdig hier, denke ich.
Wahrscheinlich sind es sind die nassen, unasphaltierten Straßen von Dawson City, die so modrig riechen. Nur einen Meter unter der Oberfläche ist es schon jetzt kalt. Hier beginnt der Permafrostboden, der wohl nie von Maschinen aufgerissen wird. Obwohl sich hartnäckig das Gerücht hält, dass unter den Straßen von Dawson City Goldschätze liegen, die von den Pionieren vergraben wurden.
Text und Bilder: Ralf Johnen, zuletzt aktualisiert im August 2021. Die Recherche über den zweiten Goldrausch von Dawson City wurde von der Canadian Tourism Commission (CTC) unterstützt. Wer diese Geschichte gerne gelesen hat, dürfte sich auch für die Anreise mit Air North von Whitehorse interessieren.
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