Ein Rundgang durch Riga zeigt, dass die lettische Kapitale auch eine Hauptstadt des Jugendstils ist. Mit dem Erbe der russischen Besatzung hadert das kleine baltische Land mehr denn je.
Ohne Augen geht man nicht auf die Straße. Daher hat Ligita Toomik durchaus Verständnis für all die jungen Frauen, die ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, indem sie sich auf sichtbar übertrieben hohen Absätzen über das Kopfsteinpflaster von Riga bewegen. Auffallen, sagt sie, ist erlaubt im neuen Lettland.
Riga: Hauptstadt des Jugendstils
Noch während die Dolmetscherin das erklärt jedoch zeigt sie bereits auf die Häuser in der »Alberta iela«. So heißt eine bürgerliche Prunkstraße, in der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die Jugendstilarchitektur auf besonders extravagante Weise entfalten konnte. Hier das Abbild einer mythologischen Figur, da ein überdimensionierter Reptilienkopf, dann wieder eine Sinfonie origineller Ornamente, würdevolle Treppenaufgänge und dramatische Torbögen statt schlichter Tür.
Das sind die Ausdrucksmittel, mit denen Michail Ossipowitsch Eisenstein dem vornehmsten Viertel der lettischen Kapitale ein charismatisches Gesicht verliehen hat. Eine ganze Architektengeneration vermochte der Vater des Filmregisseurs Sergei Eisenstein mit seinen extravaganten Fassaden zu beeinflussen. Mit dem Erfolg, dass Riga heute rundum die »Elizabetes iela« nicht weniger als 750 restaurierte Jugendstilpaläste zählt. »Weltrekord«, behauptet Toomik.
Rundgang durch Riga: Auch sowjetischer Größenwahn gehört dazu
Das Antlitz der größten Stadt des Baltikums aber wird keineswegs nur von dieser Epoche bestimmt. Viel mehr hat die wechselvolle Geschichte überall in Riga ihre Spuren hinterlassen: Das Schloss an der mächtigen Düna, die quer durch die Stadt fließt, stammt aus dem Mittelalter. Ein Gebäudeensemble in der Altstadt, das im Volksmund »Die drei Brüder« heißt, hält die Erinnerung an die Hansezeit wach.
Doch auch die Schattenseiten der jüngeren Geschichte sind unvermindert präsent: Am Rande der City erhebt sich die Akademie der Wissenschaften, deren russischer Klassizismus als Mahnmal für fast ein halbes Jahrhundert Besatzung gilt. Und weit außerhalb der Stadt ragt dann noch der 370 Meter hohe Fernsehturm in den Himmel. Ein für sich gesehen eleganter Bau, der Letten wie Ligita Toomik jedoch nur noch als Fanal sowjetischen Größenwahnsinns gilt.
Breschnews Rolls Royce als Gruß an die ungeliebten Russen
Überhaupt können sich die Letten Seitenhiebe auf die ungeliebten Kommunisten nicht verkneifen. Im örtlichen Automobilmuseum zum Beispiel steht das Wrack jenes Rolls Royce, den Leonid Breschnew 1980 in Moskau persönlich zu Schrott gefahren hat. Hinter dem Steuer: Eine Puppe, die den ehemaligen Vorsitzenden der KPdSU mit schmerzverzerrter Grimasse zeigt.
Derlei unsubtile Racheakte mögen ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass die Lebensfreude in die 700 000-Einwohnerstadt zurückgekehrt ist. Das gilt auch für die lettische Sprache, die laut Toomik vor 1989 allenfalls im Theater geduldet war.
»Wir haben damals häufig auf die Signale zwischen den Wörtern gelauscht«, erinnert sich die 48 Jahre alte Frau. Und sei es nur, dass in die Musik ein paar Takte der lettischen Nationalhymne eingeflochten waren. »Dann sind die Leute aufgestanden und haben spontan applaudiert.«
Die lettische Sprache feiert eine Renaissance
Gut drei Jahrzehnte nach dem Ende der russischen Besatzung ist die Sprache des stolzen Volkes wieder allgegenwärtig. In den vielen Parkanlagen schnattern die Leute auf Lettisch vor sich hin. Vor allem aber bei den Sängerfesten, wenn bis zu 20 000 Stimmen gleichzeitig erklingen, wird das Lettische zelebriert. Die Feste, die alle fünf Jahre das ganze Land in Beschlag nehmen, sind laut Toomik »unser immaterielles Weltkulturerbe«.
Zudem wurde in Riga vieles, was an Bevormundung oder Freiheitsbegrenzung erinnert, abgeschafft. Eine Sperrstunde existiert nicht. Und so zeigt ein Rundgang durch Riga, dass die Jugend bis tief in die Nacht auf den Straßen und Plätzen unterwegs ist, wo auf beheizten Freilichtbühnen Bands spielen. Anschließend geht es ab in die Keller-Bars. Touristen vor allem aus Großbritannien und Skandinavien wissen das preiswerte Bier zu schätzen.
Geräucherte Schweineohren beim Rundgang durch Riga
Doch das Riga der Gegenwart ist keineswegs nur eine lärmende Partystadt. Auch Folklore wird groß geschrieben: In der »Taverna Dzintara Zela« hat es sich ein junges deutsches Pärchen gemütlich gemacht. Beide fragen nach landestypischen Spezialitäten und erhalten bald darauf eine »Jägerplatte« mit Elchschinken, Wildschweinwurst und geräucherten Schweineohren.
Dazu wird Schwarzbier aus dem Steinkrug serviert. Und zur Verdauung kommt ein Wodka auf den Tisch, dem die Letten konsequent die Schärfe nehmen. Hierzu beißen sie sofort nach dem Genuss in ein Stück Salatgurke, das sie zuvor in Honig tunken. Rustikal.
Der Nachtmarkt ist ein Muss beim Rundgang durch Riga
Dann, auf dem Weg in die Neustadt, zeigt die Stadt ihre intimen Seiten. Weit nach Einbruch der Dunkelheit schimmert die orthodoxe Kathedrale im Mondlicht. Ganz in der Nähe dringt den Passanten plötzlich ein intensiver Geruch in die Nase. Es sind Tausende von Lilien, die hier ihr wuchtiges Bukett verbreiten, aber auch andere Blumensorten, die an einem Dutzend Stände auch nachts verkauft werden.
Wenig ist den Letten der Gegenwart so wichtig, wie ein frischer Strauß Blumen. Trotz des neuen Selbstbewusstseins aber fürchten manche Letten, dass ihre Gesellschaft auf ähnlich wackligen Füßen steht, wie die Damen, die auf hohen Absätzen unterwegs ist. So hat die erste offizielle Volkszählung des neuen Lettland ergeben, dass das Volk weniger als zwei Millionen Menschen zählt.
Der Westen lockt
Das liegt auch daran, dass viele junge Menschen auf der Suche nach dem Glück in den Westen auswandern. Dadurch fehlen Facharbeiter, ein Umstand, der wiederum Investoren abschreckt.
Auch Ligita Toomik kennt das Problem: »Wenn sich das nicht ändert«, sagt sie mit Gefühl für Galgenhumor, »dann gibt es in 70 Jahren gar keine Letten mehr«. Tief im Herzen aber ist sie überzeugt, dass die Zukunft dieser prächtigen Stadt gerade erst begonnen hat. Nicht zuletzt als Hauptstadt des Jugendstils.
Informationen zu Riga, Hauptstadt des Jugendstils
Obwohl Riga prinzipiell ganzjährig ein Reiseziel ist, entfaltet die Stadt ihren nordischen Charme von Juni bis August am besten, wenn die Tage warm und zudem lang sind. Die Winter sind sehr kalt. Lettland ist seit 2004 Mitglied der Europäischen Union. Das Lettische ist Landessprache, als Tourist aber kommt man mit Deutsch oder Englisch sehr gut zurecht.
Seit 2014 ist der Euro die Währung Lettlands. Dennoch sind Hotellerie und Gastronomie in Lettland eher preisgünstig.
Anreise nach Lettland
Per Fähre mit Stenalines ab Lübeck-Travemünde in 26 Stunden nach Ventspils, danach weiter per Pkw oder Bus. Per Flugzeug mit Air Baltic direkt aus 14 deutschen Städten, darunter Köln, Hamburg und Berlin.
Übernachtungen in Riga
Im Radisson Blue Elizabete, das im Stile eines eleganten Boutique-Hotels allen Komfort bietet (etwa 85 Euro/Doppelzimmer). Das Hotel Neiburgs (https://neiburgs.com/de/) wurde gerade wieder eröffnet, es befindet sich wieder im Besitz jener Familie, die es im Jugendstil Rigas mitten in der Altstadt hat erbauen lassen (ab 100 Euro/DZ).
Text und Fotos zur Geschichte über Riga: Ralf Johnen, zuletzt überarbeitet im Juli 2022.
Zusätzliche Informationen auf der Webseite des lettischen Tourismusbüros.
Comment
ich erspare allen meine Gedanken zur – höflich ausgedrückt – politischen Unvernunft der Menschheit. Ein sehr ausdrucksstarker Bericht mit vielen sehr, sehr schönen Fotos… die nächste Einladung zum Besuch Lettlands, großartig. Manni