Mehr als 110 nach dem Unglück beschäftigt ein Kind an Bord der Titanic immer noch die Gemüter. Eine traurige Geschichte aus Halifax in Kanada.
Es ist eine gespenstische Szene, die sich am Sonntag, 21. April 1912, sechs Tage nach dem Untergang der Titanic abspielt: Inmitten von Wrackteilen dümpelt die Leiche eines kleinen Jungen. Die Besatzung des Kabelschiffes Mackay-Bennett, das die Titanic-Reederei White Star Line zur Bergung der Opfer gechartert hat, ist auf einiges vorbereitet. Man hat Särge mit an Bord genommen und säckeweise Eis zur Kühlung der Leichen. Doch das hier ist zuviel.
»Der Körper trieb an dem Boot entlang, zärtlich nahmen die Retter ihn an Bord. Der Anblick des mit dem Gesicht nach oben treibenden Jungen ließ viele der harten Seemänner die Tränen in die Augen steigen«. So notiert es die Zeitung »Morning Chronicle« aus Halifax in Kanada am 1. Mai. Der Junge, dessen Geheimnis erst 94 Jahre später gelüftet werden soll, ist der vierte Tote, der an Bord genommen wird. Insgesamt werden es über 200 Titanic-Opfer, die bei der Bergungsaktion nach Halifax gebracht werden. Doch keines derer, die nicht identifiziert werden können, sorgt für so viel Anteilnahme, wie dieser Junge über den der Leichenbeschauer notiert: „NO. 4 – männlich – geschätztes Alter 2 – blonde Haare.
Das einzige Kleinkind an Bord der Titanic
»Kleidung: grauer Mantel, Fell an Kragen und Ärmeln, brauner Gehrock, Unterrock, Flanell-Kleidung, pinkfarbenes Woll-Unterhemd, braune Schuhe und Kniestrümpfe. Keine anderen Anzeichen, wahrscheinlich dritte Klasse.« Mehr nicht. Wohl die Mutter hat ihren Sohn so warm eingepackt in der Unglücksnacht. Die Besatzung der Mackay-Bennett legt einen Schwur ab. Sollte niemand Anspruch auf das Kind erheben, man würde sich um die Beisetzung kümmern. »Der Junge war das einzige Kleinkind, das tot geborgen wurde«, sagt Glenn Taylor.
100 Jahre nachdem das damals größte Schiff der Welt, die RMS Titanic, das im Duktus des Fortschrittglaubens als »unsinkbar« galt, im Nordatlantik einen Eisberg rammte und 2 Stunden und 40 Minuten später unterging, steht der Touristenführer vor einem Grabstein auf dem Fairview Lawn Friedhof in Halifax. »Aufgestellt in Erinnerung an das unbekannte Kind dessen Überreste geborgen wurden nach dem Untergang der Titanic am 15. April 1912“, sthet vor Ort in Kanada geschrieben.
Stofftiere und Münzen für das unbekannte Kind
»Die Leute legen heute noch Stofftiere, Spielzeug und Münzen hier nieder, und kein Obdachloser würde es wagen, etwas zu stehlen.« Der Stein zeugt davon, dass die Besatzung der Mackay-Bennett ihren Schwur einlöste. »Sie kaufte einen schönen Sarg und diesen Grabstein und war geschlossen beim Begräbnis dabei«, sagt Taylor. Schon 1912 sorgt das unbekannte Kind für einen Massenauflauf.
Unter den Anwesenden bei der Trauerfeier in der St. George’s Anglican Church in der Brunswick Street sind die 75 Mann Besatzung des Rettungsschiffes, als die Trauerkutsche am 4. Mai langsam zum Friedhof rollt, säumen hunderte die Straßen.
Pilgerort für Titanic-Nostalgiker
Die Hafenstadt Halifax in der kanadischen Provinz Neuschottland ist heute Pilgerort für Titanic-Interessierte aus aller Welt. Hier liegen 150 Titanic-Opfer begraben. Die meisten davon auf dem Fairview Lawn Cemetery, zu dem Taylor auch heute eine Busladung an Touristen begleitet hat. Halifax wurde zum Zentrum der Bergungsaktivitäten bestimmt, weil es den zum Unglücksort nächstgelegen Festlandhafen hatte und an das Bahnnetz angeschlossen war. Angehörigen sollte es mit der Rückführung so einfach wie möglich gemacht werden.
Das Gästetrüppchen hat sich um die insgesamt 121 gleichförmigen Grabsteine, die wie graue Zahnreihen aus dem Gras ragen, gruppiert. Taylor Tonfall ist fast pastoral als er vor einem anderen Grabstein innehält: »Ich möchte Ihnen nun diesen Gentleman vorstellen. Steward William Denton Cox.« Er sei es gewesen, der ein ums andere Mal runter in den Schiffsbauch der Titanic gestiegen sei, um Passagiere der dritten Klasse an Deck zu holen. »Dass die Besatzung nur ihre eigene Haut retten wollte, dieses Gerücht stimmt einfach nicht.«
Bestattung vier Tage nach dem Untergang der Titanic
Wie Historiker vermuten, war es jener Steward Cox, der auch eine Schwedin namens Alma Pålsson in ein Rettungsboot setzen wollte. Mit ihren vier Kindern erreichte sie das Deck aber erst, als alle Rettungsboote, teils unterbesetzt schon zu Wasser gelassen waren und die Titanic in bedrohlicher Schieflage in den spiegelglatten Ozean stach. Pålssons Sohn Gösta wurde offenbar von einer Welle über Bord gerissen, er, seine Geschwister und die Mutter überlebten die Tragödie nicht.
Alma Pålsson wird vier Tage nach dem Begräbnis des unbekannten Kindes bestattet – in direkter Nachbarschaft zu dessen Grab. Denn zwischenzeitlich glaubte die White Star Line anhand von Passagierlisten das Kind als Gösta Leonard Pålsson identifiziert zu haben. Doch das stimmte nicht. Selbst die Reederei sprach von einer »vorläufigen« Identifikation.
Späte Lösung des Rätsels um das unbekannte Kind an Bord der Titanic
Um die Wahrheit ans Licht zu befördern, wäre Alan Ruffman fast zu spät gekommen. 89 Jahre nach dem Untergang erhält der Forscher 2001 gemeinsam mit Ryan Parr, einem außerordentlichen Professor an der Lakehead Universität in Ontario, eine Sondergenehmigung. Um doch noch die Namen nicht-identifizierter Opfer herauszufinden, öffnen sie mehrere Gräber, darunter auch das des unbekannten Kindes und stoßen zunächst auf nichts als Schlamm, zu sehr ist die Verwesung fortgeschritten.
Ruffman, ein hagerer Mann mit nervösem Blick, völlig ergraut, sitzt im Keller einer Studentenkneipe in Halifax. »Hier war ich vor über dreißig Jahren schon – nach den Vorlesungen.« Vor ihm ein Teller mit Kabeljau, dazu ein Bier. Ein sechs Zentimeter langes Knochenfragment eines Unterarmes und drei Zähne bergen sie letztlich doch für eine DNA-Analyse.
Suche nach den Nachfahren in Schweden
»Mein Job war es, die direkten Nachfahren der sechs Kinder zu finden“, erzählt Ruffman. Denn sechs der Opfer, die den Wissenschaftlern bekannt waren, kommen nach ersten Untersuchungen in Betracht. Neben Pålsson sind dies: ein 5 Monate alter schwedischer Junge, ein 2 Monate älterer Engländer, ein gut 2,5 Jahre alter Junge aus dem US-Staat Washington sowie Sidney Leslie Goodwin, 19 Monate alt, aus England und Eino Viljami Panula, ein Finne von 13 Monaten. Um DNA-Proben der Angehörigen zu bekommen, macht sich Ruffman vor nunmehr elf Jahren auf eine Reise durch Europa. Er ergattert sogar die Blutprobe eines über 100-Jährigen.
DNA-Vergleich
»Wir führten zunächst drei Versuche durch, um die Identität zu lüften.« Anhand der Vergleiche sogenannter mitochondrialer DNA (mtDNA) muss Gösta Pållson im Frühjahr 2002 von der Liste gestrichen werden. Im Sommer des gleichen Jahres beteiligen sich Zahnmediziner aus Toronto an dem Puzzle. Sie finden in den ausgegrabenen Zähnen sehr gut erhaltene mtDNA. Doch wir haben keine Übereinstimmung bei den Nachfahren des Briten und des Schweden.
Schließlich entdecken die Forscher Dopplungen in einem speziellen Bereich der mtDNA, einer der sogenannten hypervariablen Regionen, mit den Proben der Panula-Nachfahren. Den älteren Goodwin schließen sie aus, weil sie die Zähne zunächst einem 9 bis 15 Monate alten Kind zurechnen. Am 6. November 2002 geben Ruffman und Parr bekannt: Eino Viljami Panula aus Ylihärmä in Finnland ist das unbekannte Kind. Die Nachricht geht um die Welt. Doch sie stimmt wieder nicht.
Ein geheimnisvoller Schuh
»Wir zogen nicht in Betracht, was die Forschung mittlerweile herausgefunden hatte«, sagt Ruffman. Nämlich, dass viele männliche Nordeuropäer eine solche Übereinstimmung innerhalb der mtDNA vorweisen. »So lag die Chance, dass wir das Kind richtig identifiziert hatten, nur noch bei 50:50.« Im gleichen Jahr taucht ein paar verwitterter brauner Lederschuhe auf, die die Zweifel verstärken.
Die Geschichte des geheimnisvollen Schuhwerks, kennt Bob Corkum, der Gäste regelmäßig durch die Titanic-Ausstellung im Maritime Museum of the Atlantic in Halifax führt. »Den Leuten stehen regelmäßig die Tränen in den Augen, wenn ich ihnen von der Titanic erzähle. Als wären ihre Verwandten an Bord gewesen.«
Körper Nummer 4
1912 werden die Habseligkeiten der Titanic-Opfer verbrannt, um die Souvenir-Jäger endlich los zu werden. Die Aktion wird von der Polizei überwacht. Clarence Northover, ein Sergeant, bringt es nicht übers Herz, die kleinen Schuhe den Flammen zu übergeben. So gehen sie schließlich in den Hausrat der Northovers über. Im Juli 2002 stiftet der Enkel des Sergeant das Paar dem Museum, wo sie heute hinter Glas betrachtet werden können.
Dort ist man sich nach dreijähriger Überprüfung sicher: Es handelt sich um die Schuhe, die schon 1912 der Leichenbeschauer von Körper Nummer 4 erwähnt hat. Denn einzelne Kleidungsstücke hatte die Mackay-Bennett nicht an Bord genommen.
Das Kind an Bord der Titanic: Eindeutige Identifizierung als Sidney Leslie Goodwin
Ruffman und Parr sehen sich in einer Zwickmühle. Stimmt die Erkenntnis der Museumsexperten, muss Eino Viljami Panula viel zu große Schuhe angehabt haben, denn das Museumspaar ist viel größer als für ein 13 Monate altes Kind. Schließlich nehmen sie die Hilfe des Armed Forces Identification Laboraty in Rockville, Maryland in Anspruch, einer Organisation, die sich normalerweise mit der Identifizierung von im Zweiten Weltkrieg und anderen Kriegen Gefallenen befasst.
Mittels einer genaueren Methode kommen die US-Experten zu dem Schluss: Nur der mit 19 Monaten gestorbene Sidney Leslie Goodwin, geboren am 9. September 1910, kann das unbekannte Kind sein. Ihm hätten auch die Schuhe gepasst. Am 10. April 1912 gingen die Goodwins an Bord der Titanic. Die Familie, neben den Eltern und Sidney Leslie seine fünf älteren Brüder, wollte seinerzeit auswandern. Vater Frederick hatte nach Quellenlage der Website encyclopedia-titanica.org einen Job in einem neuen Wasserkraftwerk in Niagara Falls im US-Staat New York in Aussicht.
Umbuchung auf die Titanic
Die Goodwins waren eigentlich auf einem kleineren Dampfschiff gebucht, das wegen eines Kohlestreiks Southampton nicht verlassen konnte. Sie wurden auf die Titanic umgebucht. Die ganze Familie starb bei dem Untergang des Ozeanliners und mit ihnen 1500 weitere Passagiere. Samt Besatzung hatten sich über 2200 Menschen an Bord befunden, nur 705 von ihnen konnte die heraneilende Carpathia aus den Rettungsbooten aufnehmen.
100 Jahre später steckt Halifax mitten in den Vorbereitungen von Gedenkfeiern, Film- und Musikfestivals und Symposien zum Thema Titanic. Das Museum plant eine Sonderschau zu den Bergungsaktionen von damals. Der Grabstein, unter dem die Überreste von Körper NO. 4 ruhen, soll allerdings keine neue Gravur bekommen. »Er soll das Gedenken an alle Kinder aufrecht erhalten, die damals starben«, sagt Ruffman. Über einen kleinen Stein mit der Prägung Sidney Leslie Goodwin in direkter Nachbarschaft denken die Leute in Halifax aber auf jeden Fall nach.
Information zum Kind an Bord der Titanic
Text und Bilder zur Geschichte über das Kind an Bord der Titanic: Stefan Weissenborn, zuletzt aktualisiert im Juli 2022.
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