Anfang der 1990er stieg Seattle für wenige Jahre zur Musikhauptstadt der Welt auf. Bands wie Nirvana, Pearl Jam und Soundgarden hatten einen rauen Stil entwickelt, der als Grunge in die Geschichte eingehen sollte. Der Sound of Seattle schien den Nerv der Zeit perfekt zu treffen und dominierte zur allgemeinen Überraschung die internationalen Charts. Eine Spurensuche.

Legenden des Sound of Seattle: Mudhoney, hier im Club Paard im niederländischen Den Haag
Wir schreiben den August 1991, als die nicht mehr ganz neue aber noch weithin unbekannte Band Nirvana eine neue Single veröffentlicht. »Smells Like Teen Spirit« ist nach einem in den USA populären Deo benannt und besticht durch eine unbändige Energie, laute Gitarren und die markante Stimme von Kurt Cobain.
Der Sound of Seattle stürmt die Charts
Die Welt staunt nicht schlecht, als sich die Hymne die Charts stürmt. In den USA auf Platz 6, in Deutschland auf Platz 2 und in Spanien, Belgien und Frankreich gar auf Platz 1. Völlig unerwartet hat ein neuer Sound das Regiment übernommen und für eine Weile ist nichts mehr, wie es früher war.

Pilgeradresse: Der Flagship-Store des Plattenlabels Subpop in Seattle
Im Kielwasser von Nirvana erreichen auch Pearl Jam, Soundgarden, Mudhoney, Hole und Alice in Charts die vorderen Plätze der internationalen Hitparade. Mit der unmittelbaren Folge, dass die komplette Musikindustrie ihre Augen auf Seattle richtet, denn hier kommen fast alle der neuartigen Bands her, die den Sound des Undergrounds massenkompatibel machen.
Lange Haare und Holzfällerhemden
Die Männer haben lange Haare und sie tragen Holzfällerhemden und schwere Stiefel. Die Frauen, alle voran Courtney Love, fallen durch provokative Outfits und eine schroffe Attitüde auf. Schnell wird ihnen nach den Gesetzen der Musikindustrie ein Label verpasst: der Sound of Seattle wird fortan als Grunge vermarktet.

Der Sound of Seattle an einer einzigen Wand
Epizentrum der Bewegung ist das heute noch andernorts existente Crocodile Café, auf dessen Bühne die Revolution Abend für Abend greifbar wird. Nur 550 Besucher passen in den kleinen Club, der plötzlich zur Hauptanlaufstelle für Talentsucher aus aller Welt wird.
Grunge, Sub Pop und das Crocodile Café
Das Plattenlabel Sub Pop fungiert unterdessen als Heimathafen vieler jener Musiker, nach deren Werk plötzlich eine ungeahnte Nachfrage besteht. Schließlich befinden wir uns im Zeitalter der analogen Tonträger, die über physische Vertriebswege den Weg in die Plattenläden der Welt finden.

Ist das schon Kunst? Die Mitglieder von Pearl Jam als Schmuck für Surfbretter
Doch auch Kill Rock Stars, K Records, Touch and Go, SST oder Homestead profitieren massiv von dem Hype. Die Labels sind nicht mehr im Pazifischen Westen beheimatet, denn vom Musiksender MTV und einer euphorischen Journaille angetrieben, hat Grunge inzwischen den Mount Rainier hinter sich gelassen und die gesamten USA erfasst. Doch durch ihre Verpflichtungen bestimmen die Bosse der Plattenlabels, wer die Stars der nächsten Stunde wurden.
Der Sound of Seattle schwappt nach Europa über
Der Hype scheint keine Grenzen zu kennen. Auch auf den Straßen Europas kleiden sich die Kids inzwischen so, als wären sie in der Metropole am Puget Sound beheimatet. Mittlerweile verkaufen Pearl Jam und Nirvana auch hier große Hallen aus. Da ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Grunge auch auf der Kinoleinwand zu sehen ist.

Der Plattenladen Sonic Boom Records in Seattle ist mir dank seines exzellenten Sortiments in bester Erinnerung
Matt Dillon und Bridget Fonda verkörpern im Film »Singles« den Prototyp des erfolgsverwöhnten Grunge-Pärchens. Dabei stolziert Dillon mit seiner Mähne derart selbstverliebt über die Leinwand, dass die Grenze zur Komödie überschritten wird.
Tragisches Ende
Bald aber bahnt sich an, dass Seattle seinen Zenit als Welthauptstadt der Popmusik überschritten hat. Das Publikum hat sich langsam sattgehört an den immer wuchtiger und zähflüssiger werdenden Gitarrenorgien. Die Boomphase des Genres endet mit einem Knall: Am 5. April 1994 begeht Nirvana-Sänger Kurt Cobain Selbstmord.

Das von Frank O. Gehry erbaute Museum of Popular Culture in Seattle mit der Space Needle
Es hinterlässt einen Abschiedsbrief mit einem Zitat von Neil Young: »It’s better to burn out, than to fade away.« Worte, die wenig Spielraum zur Interpretation offenlassen. Mit Cobains Tod ist Grunge nicht mehr dasselbe. Doch Seattle wird sich ewig rühmen können, eine Weile die Kapitale des musikalischen Weltgeschehens gewesen zu sein.
Informationen zum Sound of Seattle
Die Spuren, die Grunge in Seattle hinterlassen hat, sind bis in die Gegenwart sichtbar. Das Crocodile Café hat 2021 an neuer Adresse im selben Viertel (Belltown) aufgemacht. Subpop betreibt in Downtown Seattle einen schönen Flagship-Store mit allerlei Memorabilien. Das Lager leitet Mark Arm, der Sänger von Mudhoney.
Aufstieg und Fall von Grunge zeichnet das Museum of Pop Culture (MOPOP) nach. Als angesagtestes Viertel für Seattle Subkultur hat Pike/Pine mittlerweile Belltown abgelöst. Belltown befindet sich nur ein paar Blocks nordwestlich von Downtown.

Grungeskulptur? Ein Gitarrenberg im Museum of Popular Culture in Seattle
Meine Erfahrungen vor Ort
Als Musik-Fanatiker mache ich mich bei fast allen Reisen auf die Suche nach Spuren der Musikgeschichte. Das ist in vielerlei Hinsicht eine spannende Angelegenheit. Die besten Anlaufstätten sind Plattenläden, Clubs und manchmal auch Labels oder Studios, wo ich ich gerne auch mit Memorabilien wie T-Shirts, Schallplatten und Biographien eindecke.
Die besten Adressen in Seattle
Subpop: Der Flagship-Store des Plattenlabels hat neben Vinyl auch Memorabilien wie T-Shirts und Aufkleber im Sortiment. Subpop Records, 2130 7th Ave, Seattle, geöffnet tgl. 11 bis 19 Uhr.
Sonic Boom Records: Top-Plattenladen mit exzellentem Namen im nördlich der City gelegenen Viertel Ballard. Ich habe mir ein Fahrrad gemietet und hierhin zu kommen. 2209 NW Market St, Seattle.
The Croc hat an neuer Location unweit des alten Clubs aufgemacht. Die Originaladresse war wenige Hundert Meter entfernt in der 2200 2nd Avenue an der Ecke Blanchard Street. The Crocodile, 2505 1st Ave, Seattle, geöffnet täglich ab 17 Uhr, thecrocodile.com.

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Das Museum of Popular Culture befindet sich neben der Space Needle in einem Bau von Frank O. Gehry. Die Sammlung beschäftigt sich auch mit diversen anderen Aspekten der Popkultur. Museum of Popular Culture, 325 5th Ave. N., Seattle, geöffnet Donnerstag bis Dienstag von 10 bis 17 Uhr (Di nur bis 15 Uhr), Eintritt 28,50 USD, mopop.org.
Text und Bilder: Ralf Johnen, Juli 2025.
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