Das italienische Gorizia war Europas letzte geteilte Stadt. In diesem Jahr teilt sie sich mit der slowenischen Schwesterstadt Nova Gorica und Chemnitz den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt.

Blick vom Castello in Gorizia und die Stadt und die dahinterliegenden Berge
Eine Kuh steht mit den Vorderbeinen in Jugoslawien, während ihre Hinterbeine sich auf italienischem Territorium befinden. Unter ihr verläuft eine Kalklinie, welche die Ursache für die territoriale Verwirrung ist. Die Szene ist auf einem Schwarzweißfoto aus dem September 1947 festgehalten. Damals hat sich das Leben der Familie Leban vom einen Tag verändert. Fortan sollten die Bewohner in zwei unterschiedlichen Ländern leben – und Gorizia sollte noch Jahrzehnte danach Europas letzte geteilte Stadt sein.

Leben auf geschichtsträchtigem Grund und Boden: Mauro Benin und sein Vierbeiner
Gorizia: Europas letzte geteilte Stadt
Der weiße Strich ist eine Folge der im Februar beendeten Pariser Friedenskonferenz. In deren Rahmen haben die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Grenzen Europas teilweise neu verlegt. Mit einiger Verspätung werden die Beschlüsse nun umgesetzt. Wie Mauro Benin berichtet, wussten seine in Gorizia ansässigen Vorfahren da bereits, dass etwas passieren würde. »Aber weder wann noch wie genau.«

Zwiebeltürme: die Kirche Sant Ignazio an der Piazza von Gorizia
Die neue Grenze verlief parallel der von Jesenice nach Triest führenden Eisenbahnstrecke. Wegen der zu wahrenden Sicherheitsabstände zogen die jugoslawischen Soldaten sie mitten durch das Gehöft der Familie. Wie der 64-jährige berichtet, durften sich sein Vater und dessen Brüder seinerzeit wegen der außergewöhnlichen Situation entscheiden, in welchem Land sie leben wollten. Sie entschieden sich für Italien. Doch ihre jenseits der Gleise liegenden Felder gehörten fortan zu Jugoslawien.
Europäische Kulturhauptstadt mit dem Motto: Go 2025!
Immerhin, so Benin, konnte der kurz darauf errichtet Grenzzaun so umverlegt werden, dass die Stallungen weiterhin italienisches Staatsgebiet waren. Auch erhielt die Familie ein Sonderrecht. Für die folgenden acht Jahre gehörten sie zu wenigen Italienern, die eine ansonsten hermetisch abgeriegelte Grenze passieren durften. Für die Erledigung der Arbeit, aber nicht zwecks Besuchs von Familienmitgliedern, die östlich der Gleise lebten.

Italienische Grandezza an der Piazza von Gorizia
78 Jahre nach dem Bau der Mauer wird die 35 000-Einwohnerstadt in Friaul-Julisch-Venetien 2025 gemeinsam mit zwei weiteren Städten Europäische Kulturhauptstadt. Nova Gorica, das der Co-Ausrichter Slowenien ins Rennen schickt, wollte die italienische Schwesterstadt in die Festivitäten mit einbeziehen. Dritter im Bunde ist Chemnitz, denn seit 2008 teilen sich jeweils zwei Städte aus vorab festgelegten Ländern turnusmäßig die Würde. Das Motto lautet »Go 2025!«
Europas letzte geteilte Stadt: bewegte Geschichte
Wie Projektleiter Marco Marinuzzi erklärt, blickt Gorizia auf eine besonders bewegte Geschichte zurück. Grund ist die geografische Lage am Fuße der Julischen Alpen. Hier sei das Gebirge so leicht wie an keiner anderen Stelle zu überwinden, weshalb Gorizia lange ein bevorzugtes Einfallstor für Eindringlinge gewesen sei. Bis zum Ersten Weltkrieg war die Stadt als Görz Bestandteil von Österreich. Von 1915 bis 1918 haben sie die Habsburger und Italien in den unmittelbar hinter der Stadt beginnenden Bergketten einen jahrelangen Stellungskrieg geliefert. Danach sei es an das faschistische Italien gefallen.

Der alte Bahnhof von Nova Gorica ist Endpunkt der transalpinen Eisenbahn
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die erstmalig im Jahre 1001 erwähnte Stadt umkämpft. Diktator Tito hätte sie gerne zum Bestandteil seines kommunistischen Jugoslawiens gemacht. Weil ihm dieses Ansinnen verwehrt wurde, beschloss er jenseits der Bahnlinie seine eigene Stadt zu errichten, die größer, moderner und in jeder Hinsicht schöner werden sollte: Nova Gorica.
Nova Gorica: Kommunistische Planstadt
Gut drei Kilometer nordöstlich des historischen Stadtkerns von Gorizia erinnert ein Model an den ursprünglichen Entwurf der neuen Siedlung. Zur kommunistischen Planstadt sollten die erste Fußgängerzone des Landes und ein mächtiger Bau für die Partei gehören, während t-förmige Appartementblocks als Kniefall vor jenem Mann gedacht waren, der die Region vom Faschismus befreit hat. Die Pläne wurden nur zum Teil realisiert.

Bliack aufs Franziskanerkloster Kostanjevica in Nova Gorica in Slowenien
Dennoch macht Nova Gorica heute den lebendigeren Eindruck. Es verfügt über eine Universität und zählt daher viele junge Bewohner, Hauptanziehungspunkt sind drei Casinos, die seit 1996 eine Tradition mondäner alpenländischer Kurorte wiederbelebt haben. Westlich neben der Bahnlinie, wo vielerorts noch die Relikte des Grenzzauns zu sehen sind, befindet sich nun ein rege genutzter Radweg.
Endstation der transalpinen Eisenbahn
Touristisch attraktiverer Ziele befinden sich in den nahen Bergen. Allen voran das Kloster Kostanjevica, das neben einer bedeutenden Bibliothek auch die sogenannte Bourbonengruft beherbergt. Hier ruht mit Karl X. der letzte König Frankreichs, der hier im Exil starb und der einer bescheidenen Gruft unter der Kirche begraben ist. Ebenfalls sehenswert ist die Solkanbrücke, die wenige Kilometer nördlich den Fluss Isonzo mit seinem grünlichen Wasser überquert.

Slowenische Sprachspuren im italienischen Teil Gorizias
Die weltweit größte, auf einem Steinbogen fußende Brücke, ist Teil der ersten transalpinen Eisenbahnlinie, die in Nova Gorica endet. Der Bahnhof ist ein palastartiges Bauwerk aus der Gründerzeit des Verkehrsmittels, der anlässlich der Hauptstadtwürden aufwändig restauriert wird.
Gorizia putzt sich heraus
Auch Gorizia putzt sich heraus. Insbesondere das mitten in der Stadt auf einem 70 Meter hohen Hügel gelegene Borgo Castello, dessen Ursprünge auf das 11. Jahrhundert datieren. Die Keimzelle der Stadt ist dank mächtiger Pinien, kerzengraden Zypressen und ockerfarbenen Palazzi nicht nur sehr fotogen, sondern auch betont italienischÜberhaupt konnten die Wirrungen der Geschichte Gorizia nicht viel anhaben. Das mit epochenübergreifender Bausubstanz gesegnete Städtchen ist gut erhalten, gepflegt und lebensfreudig.

Burrata und San Daniele Schinken gehören zu den kulinarischen Spezialitäten von Friaul-Julisch-Venetien
Seine Lage zu Füßen mehrerer Bergketten machen es zu einem herrlichen Revier für Radtouren und Wanderungen ist. Die Gastronomie inszeniert derweil gekonnt die kulinarischen Spitzenprodukte der Region Friaul-Julisch-Venetien: Burrata, San Daniele-Schinken und Molsanto-Käse sind in den vielen Lokalen der Stadt eine unaufgeregt servierte Selbstverständlichkeit. Hinzu kommen die Weißweine des Collio, die in der Weinwelt in Anlehnung an die roten Super Tuscans als Super Whites apostrophiert werden.
Mahnmal für Europas letzte geteilte Stadt
Doch zurück zum Hof von Mauro Leban, wo ein Schlagbaum in den Farben der italienischen Trikolore die Erinnerung an Europas letzte geteilte Stadt symbolisch aufrechterhält. Gegenüber befindet sich ein kleines Dokumentationszentrum. Hier berichten Zeitzeugen mittels Videoeinspielungen von den Jahren, als sie vom einen Tag auf den anderen ihre Eltern nicht mehr sehen konnten.

Schlagbaum mit italienischer Trikolore in Gorizia an der ehemaligen Grenze zu Jugoslawien
Auch, weil diese im – deutlich kleineren – Teil des alten Gorizia lebten, der sich östlich der Bahnschienen befand. Darüber hinaus berichten sie vom tiefen Misstrauen, das sich in den Jahren der Trennung aufgebaut hatte. Während die einen nun Kommunisten waren, galten die anderen immer noch als Faschisten. Nur weil ihre Häuser zufällig auf der anderen Seite standen.
Erst 2007 verschwindet die Mauer von Gorizia
Der Zustand der hermetisch abgeriegelten Grenze sollte von 1947 bis 1955 anhalten. Erst danach ermöglichte ein bilaterales Abkommen gelegentliche Verwandtenbesuche. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs blieb der Grenzzaun: Auch 16 Jahre nach der slowenischen Unabhängigkeit 1991 war Gorizia Europas letzte geteilte Stadt. Erst als Slowenien 2007 dem Schengenraum beitrat, verschwand die mit einem Zaun angereicherte Mauer.

Wanderweg entlang der Orange Wine Route bei Oslavia im Anbaugebiet Collio
Seit 2019 bereitet sich Slowenien darauf vor, eine der zwei Europäischen Kulturhauptstädte 2025 zu stellen. Das anfängliche Misstrauen war laut Projektleiter Marinuzzo längst in eine neue Euphorie umgeschlagen. Beide Stadtteile profitierten von den Freiheiten einer offenen Grenze. Als Nova Gorica den Zuschlag erhielt, war schnell klar, dass Gorizia in die Festivitäten miteinbezogen werden mussten. So wird die Kulturhauptstadt erstmals seit 2007 (Luxemburg und Umgebung) grenzübergreifend sein. Ein belebender Impuls für ein Konzept, das im 41. Jahr seines Bestehens Anzeichen von Müdigkeit zuletzt nicht verbergen konnte.

Als wollte sie sich für abermalige Grenzkontrollen entschuldigen: Madonna in Gorizia
Neuerliche Grenzkontrollen im Festjahr
Ausgerechnet im Vorlauf zu den Festivitäten aber haben sich die politischen Verhältnisse erneut geändert. Die von Giorgia Melloni geführte italienische Regierung war im Oktober 2023 die erste im Vereinten Europa, die wieder Grenzkontrollen eingeführt hat.

Historisch wertvoll und mediterran angenehm: der Borgo Castello in Gorizia
Eine Praxis, der mittlerweile auch abseits der gängigen Migrationsrouten zahlreiche Staaten gefolgt sind. Wer nun in Gorizia und Nova Gorica im jeweiligen Nachbarland unterwegs ist, muss daher wieder Dokumente mit sich führen. An den Grenzübergängen stehen wieder Carabinieri. So mag »Go Borderless« als Motto weiterleben. Doch in der Praxis ist das Konzept bereits wieder Geschichte.

Schilder zu Wanderwegen im Grenzgebiet zwischen Italien und Slowenien bei Nova Gorica
Informationen zu Europas letzter geteilter Stadt
Reisezeit: Friaul-Julisch-Venetien ist ein ganzjährig attraktives Reiseziel. Das Programm zu Go 2025! steht online zur Verfügung. Einzelne Programmpunkte sind in den nahen Großstädten Triest und Udine geplant. Zu den publikumswirksamen Highlights gehören Konzerte von Robbie Williams und Sting.
Anreise: Von München mit Umstieg in Verona und Venedig mit der Bahn (etwa 9,5 Std.) oder ab Frankfurt/Main mit dem Flugzeug nach Triest und weiter per Mietwagen.

Auch Orange Wine gehört auf jede Tafel in Friaul-Julisch-Venezien, denn hier wurde er maßgeblich geprägt
Gorizia und Nova Gorica teilen sich den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 mit Chemnitz.
Weitere Informationen zur Region auf der Homepage von Friaul-Julisch-Venetien.
Text und Bilder: Ralf Johnen, zuletzt geprüft im Juni 2025.

Springbrunnen in Gorizia bei strahlend blauem Himmel
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