Die Ankunft auf den Marquesas gerät für Stefan zu einer verstörenden Angelegenheit. Das liegt auch an seinem Vornamen, der hier in Französisch-Polynesien für eine Horrorgeschichte steht.
Niemand hält ein Schild mit meinem Namen hoch. Niemand ist in Sicht, der den Anschein erweckt, als suche er einen der angekommenen Passagiere. Jeder geht seines Weges, als habe sich ein Bus an einer öffentlichen Haltestelle entleert. Es gibt kein in Folklorekluft gehülltes Empfangskomitee, das den Touristen ein Ständchen bringt wie noch in Papeete auf Tahiti. Touristen verirren sich nur selten nach Nuku Hiva.
Und dabei ist Nuku Hiva schon die größte Insel der Marquesas. Der zu Französisch-Polynesien gehörende Archipel liegt selbst von Tahiti noch einmal 1600 Kilometer entfernt. Luftlinie nach Berlin: 14 600 Kilometer. Es ist die am weitesten vom Festland entfernte Inselgruppe der Welt.
Ein Terminal wie eine Grillhütte
Mit einem großen Schritt stehe ich mitten in der winzigen Ankunftshalle – irritiert. Mir fehlt das reflexartige Gänge-entlang-hasten bis man endlich am Gepäckband ist, auch ein Schild baggage claim gibt es nicht, ebenso wenig das Gepäckband an sich. Das Terminal ist eher eine Art zu groß geratene Grillhütte mit Glastüren und Wigwam-artiger Pforte. Dann ein alter Bekannter: mein Koffer. Ein Mann mit kastanienbrauner Haut und hoher Stirn wuchtet ihn gerade auf ein Holzgestell.
»Journalist?« Wie dorthin gebeamt steht eine mollige Frau neben mir. Sie schaut mich kurz an und wieder weg, bevor ich Ja sagen kann. Ich sage trotzdem: »Ja« und sie: »Dann komm mit.« Sie winkt mich hinter ihr her, als sie seelenruhig Richtung Ausgang los scharwenzelt. Ich gebe meinem Koffer einen Stoß und folge. Was nun erzählt wird, ist eine Horrorgeschichte.
Ein schiefer Blick auf den Marquesas
Sie heiße Régina, betreibe eine Pension in Taiohae mit dem Namen Mavemai, was Willkommen bedeute, und bringe mich jetzt nach Taipivai, mehr sagt die Frau nicht und dreht den Zündschlüssel. Sie also muss es sein, die mit meinem Transfer beauftragt ist. Régina auf dem Fahrersitz, ich auf der Rückbank, vorne rechts daddelt ein Mädchen an einem Mobiltelefon herum. »Stefan is my name«, sage ich. Régina und ihre Beifahrerin werfen sich einen Blick zu.
»Früher hat das vier Stunden gedauert«, sagt Régina. Erst vor drei Monaten sei die Straße nach Taiohae fertig gestellt worden – nach zwölfjähriger Bauzeit. Davor habe es nur eine Schotterpiste über die Berge gegeben. »Jetzt schaffen wir die 48 Kilometer in einer Stunde.« Ich blicke aus dem Fenster. Hellgrüne Pinien in einer sonderbaren Ordnung. Koniferenwälder und Berge – eine Südseeinsel habe ich mir anders vorgestellt.
Grand Canyon der Südsee
Am Höhepunkt der Passstraße muss Régina rauchen. Wir steigen aus, die Luft ist frisch, die Sonne brennt auf der Haut. »Wir haben auch unseren Grand Canyon.« Mit der Zigarette zwischen den Fingern deutet die Frau in Richtung einer sich zum Pazifik hin öffnenden Schlucht. »Und dort drüben ist die alte Straße.« Eine Schneise im Grün.
»Ihr sagt salem aleikum?«, erkundigt sich Régina nach der Art zu grüßen in Deutschland, als der Pick-up die Kurven ins Tal hinab rollt, die sich wie ein Bilderbuchlabyrinth von der Landschaft abheben. »Nein«, fällt ihr die Schwiegertochter ins Wort. Aus dem Autoradio quillt Charts-Techno vom USB-Stick. Auf Deutsch kenne sie nur »schnell, schnell«, grinst Régina. Dann kichern die beiden auf den Vordersitzen wie Schulmädchen. Ich frage höflich, ob ich einen Scherz verpasst habe.
Vorfall am Wasserfall
Im galanten Dreisprung federt eine Ratte über die Straße. »Mein Mann hasst diese Tiere«, entgegnet Régina. »Sie klettern die Palmen hoch und fressen die Kokosnüsse.« Dann wieder dieses Kichern. Was denn nun los sei. Nein, das erzähle sie mir irgendwann einmal. Ich bohre nach. »Na gut.« Régina fängt an.
Sie meint, sie habe eine Geschichte, die sie mir später erzählen wolle, die aber eigentlich gar nicht so lustig sei, jetzt aber im Nachhinein schon ein bisschen – vor allem, weil ich auch Stefan heiße. Es sei schon einmal ein Stefan auf der Insel Nuku Hiva angekommen, dies sei als News um die Welt gegangen. »Da drüben am Wasserfall Ahuii – das ist übrigens der dritthöchste der Welt. 350 Meter.« Mir dämmert etwas. Ich höre zu.
Marquesas: Popoi heißt das Nationalgericht
Jetzt ist es eine Schweinfamilie, die wir am Wegesrand zurücklassen. Und Viehzeug, flattert ohnehin die ganze Zeit irgendwo im Geäst hin und her. Huhn und Schwein, beides steht ganz oben in der einheimischen Küche, neben Fisch natürlich, der unter anderem roh als Poisson Cru mit Kokosmilch serviert wird. Wassermelone, Limone, Guave, Avocado, Banane, Ananas und Papaya gedeihen prächtig unter der Äquatorsonne.
Und nicht zu vergessen: die Brotfrucht, die die Marquesaner im Feuer verkohlen lassen, um das Fleisch im Innern zu garen. Es wird zu einem wohlschmeckenden Brei verarbeitet, Popoi heißt das Nationalgericht.
»Mein Cousin Henry sollte übers Wochenende das Haus seines Onkels hüten, der war zur Konfirmationen eines Kindes ins Dorf gefahren.« Der jetzt 29-Jährige sollte Tiere und Pflanzen versorgen. Henry hatte für den Tag bereits seine Pflicht getan, als ein Fremder mit einer blonden Frau an dem Haus des Onkels auftauchte. »Es ist die Version, die mir Henry erzählt hat, ich musste später dolmetschen, als Stefans Vater anreiste.« Stefan und seine Lebensgefährtin, Weltreisende aus Norddeutschland, waren mit ihrer Yacht vor Anker gegangen und gerade auf dem Weg zum Wasserfall. Henry bot sich als Wanderführer an.
Griff zur Jagdwaffe
Später am Abend schlug Henry Stefan vor, mit ihm auf die Jagd zu gehen. Henry hatte Marihuana dabei. »Aber Stefan sagte, ich habe was Besseres. Henry nahm es und war so stark berauscht, dass er fast verrückt wurde. So geht seine Geschichte.« Régina zieht beide Augenbrauen nach oben. »Irgendwann in der Nacht wachte Henry am Lagerfeuer auf und hatte keine Hose mehr an. Er glaubte, Stefan habe üble Dinge mit ihm getrieben und griff zur Jagdwaffe.«
Als er Stefan erschoss, fiel dieser rücklings ins Feuer. Dann flüchtete Henry. Er war für fünf Wochen verschollen, massenweise Polizisten aus Papeete kamen. Zwischenzeitlich fand man den deutschen Weltumsegler, teilweise verkohlt, zerstückelt. Anhand der Zähne wurde er identifiziert. »Sein Arm war verbrannt, und die Sache wurde so interpretiert, also habe Henry mit Stefan als Opfer ein Barbecue veranstalten wollen. In den Medien in Europa war das nach langer Zeit wieder ein Fall von Kannibalismus.« Régina winkt ab.
Kannibalismus auf den Marquesas?
Geschichten menschenfressender Südseeinsulaner gingen zuletzt zu Zeiten Herman Melvilles um die Welt, als dieser 1842 nach seiner Desertation als Walfänger auf Nuku Hiva strandete und von Ureinwohnern gefangen gehalten wurde. Obwohl diese lediglich bei Stammesfehden vorzugweise die Gehirne der Feinde zu verspeisen pflegten – und Melville verschonten – hieß es später oft, er sei bei seiner Flucht den Menschenfressern entkommen. Der letzte Fall von Kannibalismus auf den Marquesas wurde offiziell in 1880er Jahren dokumentiert.
»Schließlich tauchte Henry bei seinem Vater auf, der ihm riet, sich zu stellen. Das tat er«, fährt Régina fort, als der Pick-up durch das palmenbestandene Tal von Taipivai rollt, in dem einst Melville seinen ungewollten Aufenthalt einlegte. »Jetzt sitzt er in Papeete im Gefängnis und wartet auf seine Verurteilung. Er wird vielleicht 25 Jahre sitzen müssen, vielleicht sein ganzes Leben.« Sie zuckt mit den Achseln.
Als wir im Dorf ankommen, wo es in einem Restaurant Mittagessen geben soll, mag ich mir meinen Bärenhunger nach einem langen Reisetag nicht recht eingestehen. Réginas Geschichte wiegt schwer. Poisson Cru steht in Schüsseln auf den Tischen, und auch Schwein und Huhn vom Grill gibt es. Letztlich siegt der Körper über den Geist.
Das Restaurant ist gerammelt voll mit Gästen der »Aranui 3«, die gerade vor Anker liegt. Das Schiff ist eine Mischung auf Frachter und Kreuzfahrtschiff und versorgt die Inseln alle drei Wochen mit Waren – vom Auto bis zum Sack Mehl. Und eben jenen Schiffsreisenden, denen ich mich für eine Woche anschließen werde. (Fortsetzung folgt)
Text und Bilder: Stefan Weißenborn, zuletzt aktualisiert im Januar 2023
Informationen zur Ankunft in Nuku Hiva
Anreise mit Air Tahiti Nui über Paris nach Papeete. Ab dort weiter mit Air Tahiti.
Reisezeit: Es gibt eine »Wetter«-Saison in Französisch-Polynesien (Oktober bis April), in der es vergleichsweise viel regnet und die Tagestemperatur durchschnittlich bei 32 Grad Celsius liegt. Der Rest des Jahres ist es ein paar Grad kühler und trockener. Auf den Marquesas verhält es sich umgekehrt.
Buch: In »Blauwasserleben«, erschienen im Malik-Verlag, München (ISBN: 978-3-89029-420-9) beschreibt Heike Dorsch ihre Reisen mit Stefan Ramin und verarbeitet die Erlebnisse auf Nuku Hiva, unter anderem wie der mutmaßliche Mörder ihres Lebenspartners auch sie bedroht habe.
8 Comments
Hallo Stefan
Gerade vor ein paar Wochen habe ich erst das Buch zu Ende gelesen. Schon sehr krass die Geschichte, wobei der Teil von Heike am Ende etwas anders beschrieben wurde. Das mit den berauschenden Mitteln hab ich nicht gelesen oder wohl überlesen.
Trotzdem sind die Inseln traumhaft und so ein Once in a lifetime Ding, weil man da nicht immer mal hinfliegen kann.
Lieben Gruß
Lisa
Gruslig!
Aber dass nenn ich mal echtes Reisen. Unter den Millionen langweiliger Reisegeschichten a la das war unser Hotelzimmer ein Bericht, bei dem der Schreiber bemerkt hat, dass es hier tatsächlich etwas zu erzählen gibt!
Chapeau!
Fein, ich danke für das positive Feedback! Und kann eine Reise zu den Marquesas nur empfehlen, Stefan
Hallo Stefan,
bin über google+ auf deine Seite gestoßen. Das ist ein wirklich toller Artikel. Die Fotos sind grandios. Da bekommt man wirklich Lust dort hin zu reisen. Das hast du davon, jetzt habe ich ein weiteres Ziel auf meiner Liste …
Lieben Gruss
Vanessa
na, ein Glück – ich befürchtete schon, diese Kannibalen-Geschichte würde eher abschrecken.. Viele Grüße, stefan
Brrrr, ich glaube, da hätte ich nicht hinreisen wollen. Bin gespannt, wie es weitergeht!
Hallo Martina,
Trotz der nachdenklich stimmenden Ankunft: Nuku Hiva und der Rest der Marquesas sind wunderbar!
viele Grüße,
stefan
Hallo Stefan,
ich freue mich schon auf die Fortsetzung.
Viele Grüße
Martina