Während draußen Halloween gefeiert wird, sitzt John Jeremiah Sullivan im King Georg und raucht. Er ist angerückt um zu zeigen, dass es sich bei der Sezierung der amerikanischen Gesellschaft lohnen kann, etwas genauer hinzusehen. Entsprechende Bewunderung hat seine Essay-Sammlung „Pulphead“ auch in Deutschland erfahren.
Auf Einladung des Literaturhauses ist Sullivan in den coolsten Club des Landes gekommen. Hier gibt es die besten Margharitas. Hier sind auch dann keine Prolls, wenn draußen die Event-Gesellschaft ihr immer unerträglicher werdendes Unwesen treibt. Und im angenehm verruchten, vegas-mäßigen Ambiente des horizontalen Gewerbes droht nicht einmal eine Lesung, also ein an und für sich statisches und bildungsbürgerlich aufgeladenes Ereignis, langweilig zu werden.
Sullivan hat außerdem seine Gitarre und ein paar Videos mitgebracht. Bald spricht er die Worte: „Konservative demonstrieren nicht. Sie halten Schilder hoch, wenn die Linken demonstrieren.“ Er selbst aber war zugegen, als die Tea Party mit dieser Regel bricht.
John Jeremiah Sullivan in Köln
Es ist der 12. September 2009, als die obskure Bewegung in Washington erstmals massiv gegen Barack Obama protestiert. Sullivan sieht auf den Straßen zu 99,9 Prozent weiße Amerikaner, die kollektiv ihre Panik vor der Einführung eines staatlichen Gesundheitssystems zum Ausdruck bringen. Unter ihnen: Rollstuhlfahrer und Menschen, die Anzeichen von Fettleibigkeit zeigen. Auf einem Plakat sieht er die Worte: „Wir wissen, dass der Präsident raucht, aber raucht er immer noch Crack?“
Es sind Begebenheiten wie diese, die den Autor (Jahrgang 1974) zu Reportagen von bis zu 40 Seiten Länge inspirieren. Angetrieben von der Neugier, wieso sein Land jenen Weg beschritten hat, den es dorthin gebracht hat wo es jetzt ist, analysiert er vornehmlich die Details, mit deren Hilfe er das Unsichtbare sichtbar macht. Dass eine rassistisch aufgeladene Minderheit, die von einem ultrakonservativen Nachrichtensender – sprich: Fox News – gestützt wird, gegen den Präsidenten hetzt, wusste Sullivan auch vorher. Doch die Querfinanzierung durch private Krankenkassen, auf die er alsbald durch persönliche Gespräche stößt, ist auch ihm neu.
Zu Besuch auf dem Festival für christliche Musik
Neben der Brandmarkung demokratischer Spitzenpolitiker als Kommunisten, stehen die amerikanischen Erzkonservativen der Gegenwart bekanntlich auch für religiösen Fanatismus. Anlass für Sullivan, in Pennsylvania ein Festival für christliche Musik zu besuchen. Fast zärtlich und in einer völlig anderen Tonalität schildert er, wie er mit seinem neun Meter langen Wohnmobil seinen Platz zwischen 100 000 abstinenten Adoleszenten sucht und findet. Nebenbei rollt er seine eigene Biografie auf, die ihn im heimischen Indiana einst mit ähnlichen Gefilden in Berührung gebracht hatte.
Finanzielle Macht, politische Bigotterie und spirituelle Wahnvorstellungen aber sind nur die eine Seite von Sullivans Arbeitswelt. Genese und Auswüchse der Popkultur sind für den bekennenden Smiths-Fan nicht minder relevant. Seinem Kölner Publikum etwa zeigt er einen raren Clip von Bob Marley und den Wailers aus dem Jahr 1973. Es geht ihm nicht um den Song („Stir it up“), sondern um den finalen Auftritt von Bobby Wailer, der die Band an just diesem Abend wegen des Verrats der Rastafari-Ideale verlassen hat. Ausgangspunkt für Sullivans Reportage über die Suche nach dem Musiker in Kingston, Jamaica.
John Jeremiah Sullivans spielt Neil Young
Es folgt eine Einspielung, die den jungen Michael Jackson bei der Show zum 25. Geburtstag des Motown-Labels zeigt. Die Tanzchoreographie mit den marionettenhaften Bewegungen ist auch auf Youtube zu sehen, Sullivan aber verweist auf den Moment vor dem Auftritt, der nur auf einer DVD festgehalten ist. Da verkündet der künftige King of Pop, der bereits zu Sony gewechselt war, dass er die ganzen alten Sachen des Labels schon möge. Mehr noch aber die neuen Songs – so wie das nun folgende „Billie Jean“. Ein Moment, der mehr über Jackson sagt, als alle wortreichen Abhandlungen anlässlich seines Ablebens.
Mit seiner akribischen wie unvoreingenommenen Arbeitsweise also zelebriert Sullivan die literarische Reportage. Doch er kann mehr: Bevor er im mittlerweile weithin vernebelten King Georg zu Köln endlich zur Gitarre greift, um eine Coverversion von Neil Youngs „Cortez the Killer“ zu spielen (eine Einlage, die er nicht weiter kommentiert), versucht er sich kurz als Orakel.
Nein, er kann sich wirklich nicht vorstellen, dass Amerika Mitt Romney wählen wird, einen Mann, der in einem dieser TV-Duelle ganz unverblümt zugegeben hat, dass weder er noch seine Partei sich einen Dreck um die untere Hälfte der Gesellschaft scheren. Es müsse schon wirklich etwas Komisches passieren, damit Obama nicht wiedergewählt werde. Ein Hurrikane zum Beispiel, der kurz vor Halloween genau auf New York City abzielt. Doch auch das dürfte nicht genügen, um eine Mehrheit der Amrikaner dazu zu bewegen, einen Mann zum Präsidenten zu machen, der ehrliche und hart arbeitende Menschen verachtet.
John Jeremiah Sullivan, „Pulphead“, Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 20 Euro.
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