Unser Planet ist vielerorts von erschreckender Konformität geprägt. Auch deshalb verspürte Benno von Archimboldi in Italien große Erleichterung. Für Boarding Completed berichtet er über die modernste Stadt der Welt: Venedig.
Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, aber wenn Sie mich fragen, ist Venedig die mit Abstand modernste Stadt der Welt. Die Beweisführung für diese These ist simpel. Sie beginnt schon damit, dass Sie in dieser Hochburg der Zivilisation niemals auf motorisierte Machos stoßen werden, denen die Hupe ihres hoffnungslos übertechnisierten Automobils als Ventil für den Frust über ihr Leben dient.
Staus, Parkhäuser und all der andere Unbill unserer sogenannten Kultur sind in Venedig für immer und ewig dorthin verbannt, wo sie hingehören: vor die Tore der Stadt, dort, wo der unnötige Damm zum Festland seinen Lauf nimmt, der Venedig mit dem beklagenswerten Mestre verbindet.
Am liebsten suche ich die Lagune im tiefen Winter auf, um mich für eine Weile Müßiggang und Kontemplation zu verschreiben. Ein Gelüst, dem ich sonst höchst selten nachgebe. Diesmal beginne ich den ersten Tag am »Fondamente Zattera Ai Gesuati«, wo ich mich in einer Gelateria niederlasse, ohne auch nur im geringsten die Absicht zu verfolgen, ein Eis zu essen.
Doch anders als zuletzt in einer deutschen Metropole mit dem Anfangsbuchstaben »B«, sind die Wände hier nicht mit Computer-Ausdrucken tapeziert, die mich auf das Gebot eines Mindestverzehrs pro Stunde aufmerksam machen, ohne das die Überlebensfähigkeit der Betreiber angeblich nicht zu gewähren sei.
Wo der Mensch wieder Zeitung liest
Bei meinem zweiten Espresso Macchiato (der, solange ich an der Bar stehe, nur einen Bruchteil von den in Berlin üblichen Preisen kostet) stelle ich vergnügt fest, dass die Venezianer bereits wieder Zeitung lesen. Ich notiere: Es bedarf gar keiner staatlichen Programme, um sich vor »fake news« und den ungefilterten Inhalten aggressiver Nutzer amerikanischer Kurznachrichtendienste zu schützen. Nein, zumindest in der stolzen Lagunenstadt sind die Menschen mündig genug, Papier mit gedruckten Nachrichten zu erwerben, auszuwerten und die vierte Macht im Staate aus freien Stücken zu unterstützen.
Später lasse ich mich auf einer kalten Kaimauer nieder. Es ist ein höchst nebliger Vormittag, der den Verkehr auf den Kanälen trotz der weitverbreiteten Radargeräte einschränkt, als ich in der Ferne ein Ruderboot erblicke. Keine Gondel, wie sie hier üblicherweise verkehren, sondern ein eher kleiner Kahn. Anmutig wird er von einem einzelnen Mann angetrieben und gesteuert.
Ein historischer Irrtum
Der Anblick löst etwas Merkwürdiges in mir aus, das ich im Nachhinein wohl am besten mit dem Gefühl umschreiben kann, für einen kurzen Augenblick endlich klar zu sehen: Wenn es einen einzelnen historischen Irrtum in der Menschheitsgeschichte gegeben hat, dann muss dies die Erfindung des Rades gewesen sein – schließlich war es Venedig gelungen, allein mit Hilfe von Booten zu »La Serenissima« aufzusteigen.
Eine mächtige Republik, die ihre Fühler bis zu den griechischen Inselwelten, nach Zypern und vorübergehend gar bis zur Krim ausstrecken konnte, und das ausschließlich mit Hilfe ihrer mächtigen Flotte und dem geballten Wissen der Schiffsbesatzungen, das weit über die Geheimnisse der Nautik hinausging.
Erst als sich der Nebel zu lichten begann, wurde mir klar, was ich an diesem Vormittag bislang vermisst hatte. In der Ferne kann ich nun die Umrisse von Giudecca erblicken. So komme ich auf andere, womöglich vernünftigere Gedanken. Ich erinnere mich, dass weder Historiker noch Linguisten bis heute eine überzeugende Erklärung formulieren konnten, mit deren Hilfe sich der Name der Inselgruppe am anderen Ufer des Kanals verbindlich hätte erklären lassen.
Wurde er nun abgeleitet von den »giudei«, also den Juden die dort einst mehrheitlich gelebt hatten. Oder doch von den »giudicati«, den wegen kleinerer Vergehen verurteilten Sträflingen, die im Mittelalter in den Süden der Lagune abgeschoben wurden?
Die modernste Stadt der Welt: Zu neblig für Soziale Medien?
Während ich ohne Ergebnis weiter grübele, scheint es für einen Wimpernschlag so, als würde gar die Sonne noch eine Chance erhalten. Mit einem Male wird mir klar, dass noch etwas fehlt im Straßenbild dieses angenehm trüben Tages: Es sind die Vertreter jener humanoiden Subspezies, die gemeinhin keine Gelegenheit auslassen, sich mit Hilfe einer teleskopartigen Stange sowie eines Mobiltelefons vor jeder vermeintlichen Sehenswürdigkeit zu fotografieren, um das niederschwelligen technischen Hilfsmitteln erheblich aufgehübschte Ergebnis alsbald auf eine Internet-Plattform namens Instagram zu stellen, wo es mit Gevierten, kryptischen Wortkonstrukten, Herzchen und – bei entsprechender Sicht – nicht selten auch mit illegaler Schleichwerbung garniert wird. Ich schätze den Nebel sehr.
Nur Minuten später ist klar, dass die Sonne für heute vor den dichten Schwaden kapituliert. Ja, es wird nun gar so neblig, dass ihrer Entscheidung etwas Endgültiges anzuhaften scheint, das weit über diesen einen Tag hinausgeht. Eine Vorstellung, die mich gemeinhin mit Melancholie erfüllen würde. Doch in Venedig finde ich Trost in dem Gedanken, denn falls dem so sein würde, könnten mit einiger Gewissheit auch keine Kreuzfahrtschiffe mehr auf dem Canale della Giudecca verkehren.
Gentrifizierung? Nein, danke!
Von stiller Euphorie beseelt, schlendere ich zum Punta della Dogana. Hier, am Ostzipfel des Dorsoduro, nimmt der Canale Grande seinen Lauf, diese perfekt modellierte Wasserstraße, die sich in Form eines Omega ihren Weg durch die Stadt bahnt, und an deren Ufern sich majestätische Palazzi aufbauen. Wäre ich Influencer, wie sich die neuartige Subspezies der Mobiltelfonberichterstattung nennt wird, würde ich die wohlfeile Formulierung bemühen, der zu Folge sich die Domizile der Patrizier vergangener Jahrhunderte »wie eine Perlenkette aneinanderreihen«.
Während ich die Fassaden der Palazzi begutachte, fällt mir auf, dass hier nicht einmal die Gentrifizierung eine Chance hat, ein in zentraleuropäischen Städten flächendeckend beklagtes Phänomen.
Nein, die Venezianer ziehen es vor, ihre Prachtbauten in Würde verfallen zu lassen, statt sie kapitalgierigen Investoren zum Fraß vorzuwerfen. Eine hochmoderne Position, die sie mit allen namhaften Globalisierungsgegnern teilen.
Eine Stadt ohne minderwertiges Street Food
Nonchalance ist auch den Gastronomen der Stadt fremd. Als ich mich nach meinem Spaziergang in der Collezione Peggy Guggenheim einfinde (ich bin dort mit gleich zwei Damen verabredet), verständigen wir uns schnell auf ein kühnes Vorhaben, das heute in weiten Teilen der Welt undenkbar geworden ist.
Außerhalb Venedigs befindet sich das Geschäft mit Speisen und Getränken bekanntlich fest in den Händen sogenannter Street-Food-Händler. Diese möchten sich die Mieten für richtige Lokale (inklusive voll ausgestatteter Küchen) nicht leisten. Lieber decken sie sich mit ausgemusterten Lieferwagen ein. In diesen bieten sie unter Verzicht auf professionelles Equipment, etablierte Hygienestandards und eine menschenwürdige Arbeitsumgebung minderwertige Nahrungsmittelsurrogate zu überhöhten Preisen an.
Nicht so in Venedig. Hier sind die Menschen modern und selbstbewusst genug, um globalen Trends die Stirn zu bieten. Sie wagen sich wieder vermehrt ins Restaurant. Sollte der Andrang zu groß werden, zeigen sich die Gastwirte improvisationsbereit: Vor allem für Besucher offensichtlich asiatischer Herkunft werden selbst bei Temperaturen um den Gefrierpunkt zusätzliche Tische unter freiem Himmel eingedeckt. »If you wantte, you can sitte outside«, heißt es bei Platznot in freundlichem Tonfall.
Im Restaurant ist das Essen ein Fest. Und das wird auch so bleiben, denn die weitsichtigen Venezianer haben bei der Planung ihrer Stadt an ausreichend viele Hindernisse gedacht, um potenzielle Mitarbeiter von Lieferandoo und Konsorten ein für alle Male zu demotivieren.
Im Raum für »besondere Anlässe«
Wir indes folgen für unser sonntägliches Mittagessen einem Geheimtipp. Es ist das nahe gelegene Lokal mit dem klangvollen Namen »Ai Gondolieri«, was so viel wie »Zum Gondelkapitän« bedeutet. Wir haben direkt einen hervorragenden Eindruck, denn der diensthabende Kellner, ein rundlicher Mann mit gutmütigem Gesichtsausdruck, führt uns nicht etwa in den auch hier sehr vollen Speisesaal. Nein, er ruft gut hörbar nach Verstärkung – und flugs gesellt sich ein Bataillon livrierter Kellner zu ihm.
Gemeinsam decken sie im bis dato leeren Nachbarsaal »für besondere Anlässe« eigens für uns einen Tisch ein – mit feinsten Tüchern. Zu unserem Erstaunen begnügen sich die emsigen Venezianer nicht damit, nur eine Tafel würdevoll zu decken, nein, sie richten gleich den ganzen Saal (dem mutmaßlich seit den letzten Filmfestspielen keine repräsentative Ehren mehr zuteil geworden sind) so her, als würde jeden Moment Leonardo di Caprio mit seiner Entourage anrücken.
Die modernste Stadt der Welt legt Wert auf Bescheidenheit
Der rundliche Kellner befragt uns nach unseren Vorlieben in Sachen »Aperitivi« und »Antipasti«, er legt uns die in einen dicken Folianten eingebundene Speisekarte vor, und verabschiedet sich kurzzeitig mit dem Hinweis, wir mögen uns doch gebührend Zeit lassen bei der Bestellung, die Aperol Spritz seien unterwegs.
Wir wissen die Vorzugsbehandlung sehr zu schätzen, geben uns jedoch ohne Scham als bescheidene Zeitgenossen zu erkennen. Bei aller Freude über das Wiedersehen mit den Tagesgerichten würden wir uns auch damit begnügen, was auf der Kreidetafel für Jedermann sichtbar angepriesen ist. Der Mann empfiehlt uns, wenigstens den Amarone (»ein unvergleichlicher Jahrgang!«) zu verkosten. Doch wir sind derart dankbar, für einmal nicht mit »luxuriösen« Burgern abgespeist zu werden, dass uns ein simpler Chianti zur Pasta Porcini genüge tut.
Damen, die von Gondoliere schwärmen
Nach zwei Gläsern beginnen die Damen vom zeitlosen Phänomen der Gondolieri zu schwärmen. Von jenen Männern also, nach denen das Lokal benannt ist. Stilsicher gekleidet und mit robustem Körperbau gesegnet, besitzen diese sichtbare Vorteile gegenüber jenen Zeitgenossen, die sich im Rest der Welt angestrengt um Balance mühen, während sie auf einer Art enthaupteten Windsurfbrett umständlich umherpaddeln. Ich ergänze: »Und welcher unmotorisierte Dienstleister des öffentlichen Nahverkehrs vermag schon im Stile eines Caruso eine Arie hinzuschmettern?«.
Fitness wird überbewertet
Überhaupt liegt mir die unaufgeregte Art, mit der die Venezianer dem sportlichen Wettkampf begegnen. Anders als die Römer (martialische Gladiatoren in der Arena!) oder die Griechen (überambitionierte Marathonläufer!), beschränken sich die Venezianer auf Basis-Fitness: Wo nötig, überqueren sie eine Brücke. Das war es aber auch. Oder haben Sie schon mal einen Gondoliere gesichtet, der irgendeine Form von Eile an den Tag gelegt oder gar an einem Wettrennen teilgenommen hätte?
Nicht einmal der Fußball kann hier seine allgegenwärtige Dominanz entfalten: Zwar ist dem italienischen Verband sehr wohl ein FC Venedig bekannt, doch der Verein beschränkte sich als Drittligist lange auf eine Rolle, die der allgemeinen Bedeutung des Sportes in Venedig gerecht wird. Dank einer bizarren Verkettung von Zufällen ist der Club im Jahr 2021 doch in der Serie A gelandet, wobei es allein aus wirtschaftlicher Sicht als unwahrscheinlich gelten darf, dass sich der FC Venedig dort halten wird.
Der ökonomische Selbstmord ist eingeplant
Das Stadion (im äußersten Osten des Arsenale gelegen) wurde 1913 erbaut, fasst 7450 Zuschauer und kommt aufgrund der Inselrandlage weder für Expansionsaktivitäten noch für die Übernahme durch einen Investor aus den Vereinigten Arabischen Emiraten in Frage. Auch Hooligans haben es hier schwer, müssen sie doch im Ernstfall mit dem Boot vor den Autoritäten flüchten. Auch das ist die modernste Stadt der Welt.
Es ist schon wieder dunkel, als wir nach dem Dessert ziellos durch die Gassen schlendern, vorbei an Feinkostgeschäften, deren Schaufenster mit Nougat in allen Variationen dekoriert sind. Ich merke, dass ich noch eine kleine Ewigkeit davon weiterschwärmen könnte, wie Venedig den städtebaulichen Erfordernissen der Zukunft schon heute gerecht wird.
Die modernste Stadt der Welt ist auch die Geburtsstätte des »urban gardening«
Ich höre mich dozieren, dass mit Sant’Erasmo auch eine Insel zum Stadtgebiet zählt, die sich schon vor langer Zeit vorwiegend der Landwirtschaft verschrieben hat. Damals mussten Zeitschriften wie »Wired« den Modebegriff des »urban gardening« erst noch erfinden. Die weltweite Versorgung mit hochwertigen Andenken sichern derweil zwei Nachbareilande. Auf Burano produziert die Bevölkerung seit Jahrhunderten Spitzen. Auf Murano stellen nicht minder begabte Spezialisten Geschenk- und Gebrauchsgegenstände aus Glas her.
Nach dem Vorbild uralter Traditionen, mit bloßen Händen und unter Einbeziehung lokaler Ressourcen. So wie es jene verlangen, die heute in unseren Großstädten als »Hipster« auf den Spuren ihrer Vorfahren wandern. Nur, dass sie angeblich besser verstehen, was authentisch ist.
Zu guter Letzt ist auch der Friedhof vorbildlich. Nur in Venedig wird er heute dem Anspruch gerecht, eine letzte Ruhestätte zu sein, weil die Stadt schon früh so weitsichtig war, ihn auf die vorgelagerte Insel San Michele auszulagern. Die geschätzten Kollegen Ezra Pound und Joseph Brodsky haben hier ihren Frieden gefunden. Ich beneide sie für eine Weile. Aber nicht allzu lange.
Die Fondacio dei Tedesci: Eine Sensation
Schließlich erfindet sich Venedig ständig neu. Und ich habe gerade erst von der aktuellen Sensation gehört: der Fondaco dei Tedeschi. Ein Kaufhaus aus dem Jahr 1228. Auf dem Dach befindet sich neuerdings eine Sonnenterrasse mit Blick auf die Rialto-Brücke und den Canale Grande. Sie ist kostenlos zugänglich – und ein moderner Aufzug bringt Besucher hinauf.
Text und Bilder für die Geschichte über die modernste Stadt der Welt: Benno von Archimboldi. Zuletzt aktualisiert im Oktober 2021
Benno von Archimboldi ist Schriftsteller, Utopist und Melancholiker. Er leidet ein wenig darunter, lediglich eine fiktionale Figur aus dem Roman »2666« von Roberto Bolaño zu sein. Aus diesem Grunde gibt ihm das Team von Boarding Completed in losen Abständen alldieweil Gelegenheit, sein Weltbild darzulegen. Zuletzt in der modernsten Stadt der Welt und davor in Portugal. Die Meinungen von Archimboldis sind unabhängig entstanden, für die Reisekosten allerdings ist die Redaktion aufgekommen.
Sollten Sie sich für eine Reise nach Venedig interessieren, so werden Sie auf der Internetpräsenz der städtischen Tourismusbehörde sicherlich hilfreiche Hinweise finden
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