Seattle ist die Heimat von Space Needle, Sub Pop und Starbucks. Die Einwohner trinken den ganzen Tag Espresso und geben sich betont fortschrittlich. Nur den Verlust der Supersonics haben sie am Puget Sound bis heute nicht verkraftet.
Bevor wir uns beim Städtetrip nach Seattle in der Gegenwart umsehen, unternehmen wir eine Reise in die Zukunft. Um genau zu sein handelt es sich dabei um jene Zukunft, wie sie sich die Menschen in den frühen 1960er Jahren ausgemalt haben. Der Trip dauert drei Minuten und führt uns an Bord eines stromlinienförmigen Waggons auf das 1,6 Kilometer entfernte Expo-Gelände.
Seattle Sehenswürdigkeit Nummer eins: Die Space Needle
An der Endstation der ebenso futuristischen wie kurzen Monorail wartet eine weitere Ikone der Weltausstellung von 1962: die 185 Meter hohe Space Needle. Mit ihrer raumschiffartigen Kapsel, die auf einem elegant geschwungenen Schaft thront, strahlt auch sie eine fast schon euphorische Aufbruchstimmung aus. Ein Blick von der Aussichtsplattform bestätigt diesen Optimismus: Seattle besitzt eine beeindruckende Skyline.
Die geschäftige Stadt ist herrlich an der Elliott Bay gelegen. Und am Horizont sind nicht selten schneebedeckte Berge zu erkennen.
Aufsehenerregende Kulturbauten
Nach vielen staunenden Blicken fällt unser Blick von der rundumverglasten Plattform auf ein Gebäude, dessen Bauch die Monorail kurz vor der Endstation durchquert. Es ist das von Frank O. Gehry entworfene Museum of Pop Culture (MoPop). Der Architekt gilt als sichere Bank für aufsehenerregende Kulturbauten. Doch neben der Space Needle verblasst sein Entwurf.
Offensichtlich sah sich Gehry angesichts der optischen Konkurrenz veranlasst, die Titanfassade einzufärben und wie mit einem Lockenwickler aufzudrehen. Ein Stilbruch, wegen dem Seattle mit dem dekonstruktivistischen Fanal bis heute fremdelt.
Städtetrip nach Seattle: Die Heimat von Sub Pop
An der Mission des Ausstellungshauses ändert das nichts. Das MoPop erinnert vor allem an die ungefähr von 1989 bis 1992 dauernde Epoche, in der Seattle als ultimatives Forschungslabor für die Zukunft der Popmusik galt. Damals war es Bands wie Nirvana, Pearl Jam und Soundgarden zum allgemeinen Erstaunen gelungen, den Sound des Undergrounds massenkompatibel zu machen. Epizentrum der Grunge-Bewegung war der Crocodile Club, auf dessen Bühne die Revolution Abend für Abend greifbar wurde.
Plattenlabels wie Sub Pop oder K Records aus dem nahen Olympia begleiteten den Hype und bestimmten durch ihre Verpflichtungen, wer die Stars der nächsten Stunde wurden. Matt Dillon verkörperte den Prototyp des erfolgsverwöhnten Grungers sogar im Kino. In »Singles« stolziert er mit langen Haaren, Holzfällerhemd und grenzenloser Selbstverliebtheit über die Leinwand.
Das Museum of Pop Culture: kein reines Grunge-Museum
Das MoPop aber ist kein reines Grunge-Museum, dafür wurde der Sound of Seattle zu früh in die Rolle einer Fußnote der Musikgeschichte zurückgedrängt. So bleibt der noch unvollendeten Ausstellung auch Spielraum für Hiphop, Pop aus Korea, Horrorfilme und Comics. Zudem lockt das Haus mit der weltgrößten Sammlung an Erinnerungsstücken aus dem Nachlass von Jimi Hendricks, dem immer noch berühmtesten Sohn der Stadt.
Zurück auf dem Expo-Gelände passieren wir eine Halle, die 1964 im Jahr ihrer Eröffnung Schauplatz zweier Beatles-Konzerte war. Später fungierte sie als Wirkungsstätte der Seattle Supersonics, deren Verlust die Stadt auch 14 Jahre nach dem Abschied in Richtung Oklahoma City noch nicht so recht verkraftet hat. Die Arena hingegen hat einen neuen Nutzer gefunden: Seit 2021 ist sie die Heimat der Seattle Kraken.
Climate Pledge Arena: Die erste klimaneutrale Sporthalle der Welt
Das NHL-Team hat bewusst auf einen ressourcenintensiven Neubau verzichtet und die Halle für stolze 1,15 Milliarden Dollar umgebaut. Als erstes Bauwerk seiner Art kann die Climate Pledge Arena nun einen klimaneutralen Betrieb für sich beanspruchen. Auch hebt sie sich durch ihren Namen von den üblichen Gesetzen des Sponsoring ab. Dabei aber soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Arena zum Amazon-Konzern gehört. So wie die Tech-Riesen der Region spätestens auf den zweiten Blick allgegenwärtig sind.
Über die West Thomas Street schlendern wir zur Elliott Bay, die hier zwischen Hafen und City einen fast schon verlassenen Eindruck macht. Im Myrtle Edwards Park lassen wir uns bei herrlichem Sonnenschein mit einem Veggie Lover Sandwich aus dem Deli nieder. Auf der anderen Seite der Bucht erkennen wir Bainbridge Island, einen populären Rückzugsort für viele Reiche. Weiter gen Norden sehen wir die Olympic Mountains. Eine weitere Erinnerung an die privilegierte Lage dieser Stadt.
Städtetrip nach Seattle: die touristische Waterfront
Vorbei an kleinen Stränden folgen wir dem Elliott Bay Trail zur Waterfront, wo auf ehemaligen Hafenpiers ein Riesenrad, Seafood-Restaurants und das in die Jahre gekommene Aquarium auf Touristen warten. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, würde sich Seattle nicht auch hier von seiner fortschrittlichen Seite zeigen.
Bis vor Kurzem war die Waterfront noch durch eine Schnellstraße vom Rest der Stadt abgetrennt. 2019 aber wurde das viel befahrene Viadukt als größte städtebauliches Erneuerungsprojekt der jüngeren Geschichte abgerissen. Seitdem werden mehr als 90 000 Autos pro Tag durch einen Tunnel geschleust.
Pike Place Market: Seattles älteste Sehenswürdigkeit
Nun ist Ruhe eingekehrt an einem der schönsten Orte der Stadt. Von dieser profitieren auch die Besucher des Pike Place Market. Mit seinem Angebot an frischen Waren vom Bauernhof, Street Food und Blumen mag auch dieser wie eine städteplanerisches Projekt von heute wirken. Doch in Wahrheit war Seattle der Zeit weit voraus: der Pike Place Market existiert in nahezu unveränderter Form seit 1907, womit er zu den ältesten der USA gehört.
Geschichte hat er als erster Standort einer Kaffeerösterei geschrieben, die 1971 ihre Pforten geöffnet hat. Damals sollte es noch über ein Jahrzehnt dauern, ehe Starbucks damit begonnen hat, aufgebrühten Kaffee anzubieten. Und noch viel länger, ehe Mitarbeiter in aller Welt die Pappbecher wartender Kunden mit Filzstift bekritzelten.
Starbucks Reserve: Das Kaffeelabor in Pike/Pine
Wie wir nach einer kurzen Fahrt auf dem E-Bike entdecken, hat der Weltkonzern diese Evolutionsstufe zumindest in Seattle wieder hinter sich gelassen. Das Verkehrsmittel ist ideal für Transfers innerhalb der Stadt und gehört zum selben Sharing-System, das auch die Benutzung von Elektrorollern ermöglicht.
So stehen wir nach gut zehn Minuten im hippen Viertel Pike/Pine, wo wir einen eingeschossigen Bau mit üppig ornamentiertem Dachfirst ansteuern. Über einen Zebrastreifen in Regenbogenfarben erreichen wir ein Café, das sich erst bei näherem Hinsehen als Starbucks Reserve zu erkennen gibt.
Laborartiges Equipment
Plötzlich wähnen wir uns in einer Welt, die uns ähnlich fremd vorkommt, wie Monorail und Space Needle auf die Seattleites der 60er Jahre gewirkt haben müssen. An zentraler Stelle des geschmackvoll abgedunkelten Raums bedienen Mitarbeiter laborartiges Equipment, um mit wissenschaftlichem Ernst die Wünsche ihrer Kunden umzusetzen.
Im Hintergrund klappert eine Anzeigetafel, die einem Flughafenterminal nachempfunden ist, nur dass darauf hier Details zum aktuellen Kaffeeangebot vermeldet werden. Wer dennoch Fragen hat, kann sich an einen Concierge wenden, der sich als taubstumm herausstellt und daher mithilfe eines Tablets kommuniziert.
Der Nitro Float ist der Kaffee der Zukunft
Nach dem Studium der Karte entscheiden wir uns für einen Nitro Float, ein Getränk, das stundenlang kalt aufgebrüht und mit Stickstoff aufgeschäumt wird, ehe es servierfertig ist. Kostenpunkt: 11,50 Dollar plus Tax. Es schmeckt so gut, dass wir darüber sinnieren, ob dies die bessere Zukunft ist, von der die Leute so viel reden.
Gedanken, die uns auch in den Supermärkten von Amazon Go beschäftigt haben, wo die Kasse der Vergangenheit angehört und die Kunden nur noch einer App melden, was sie den Regalen entnehmen.
Städtetrip nach Seattle: eine analoge Attraktion
Unentschlossen verlassen wir das Kaffeelabor, um uns einer sehr analogen Welt zuzuwenden. Wir befinden uns im Studentenviertel Capitol Hill, wo wir die Elliott Bay Book Company ansteuern, die mit 150 000 vorrätigen Titeln zum stundenlangen Stöbern einlädt. Ganz so, als wäre die digitale Revolution nie über den Status eines Gerüchts hinausgekommen.
Um die Ecke bei Zions Gate Records lockt eine ähnlich umfangreiche Vinyl-Sammlung. Inklusive Abteilung für den Sound of Seattle. Secondhand-Läden, Ethno-Restaurants und Live-Clubs runden das Portfolio des bunten Viertels ab.
Ausflug nach Freemont
Beflügelt von dieser Erkenntnis besuchen wir weitere Neighborhoods. Über einen abgetrennten Weg radeln wir nach Fremont. Unterwegs beobachten wir, wie Wasserflugzeuge auf dem Lake Union starten und landen, ehe wir vor einer Brücke mit gusseisernen Torbögen zu einem Schild gelangen, das den Stadtteil als »Center of the Universe« ausweist.
Neugierig überqueren wir das Wasser, um uns nach wenigen Minuten mit vielen Fragen konfrontiert zu sehen: Wie ist diese Lenin-Statue hierhingekommen und warum ist sie mit Farbe bekleckert? Wieso gibt es auf der Welt nicht mehr Geschäfte wie die Freemont Vintage Mall? Und warum haben wir noch nie so leckere koreanische Fusion-Tapas wie im Revel gegessen?
Kerry Park: Der beste Ausblick auf Seattle
Eher gediegen präsentiert sich derweil Queen Anne, wo Seattle in Konkurrenz zu San Francisco tritt. Um die von blühenden Rhododendronbüschen umgebenen Villen zu erreichen, müssen wir mehr als 100 Höhenmeter überwinden. Dank der E-Bikes gelangen wir ohne größere Anstrengung zum Kerry Park. Hier kommen wir noch einmal in den Genuss von vielem, was diese Stadt ausmacht: die Space Needle und die Skyline mit dem vielen Wasser.
Nur dass sich am Horizont heute sogar Seattles mächtiger Hausberg zeigt. Eingehüllt in rosiges Abendlicht wacht der 4392 Meter hohe Mount Rainier über die Stadt. So wie es immer war und immer sein wird – zumindest an ausgesuchten Tagen.
Informationen über einen Städtetrip nach Seattle
Seattle hat 735 000 Einwohner, im Ballungsraum leben 4 Millionen Menschen. Lufthansa fliegt den Seattle/Tacoma International Airport täglich nonstop an. Tickets kosten in der Nebensaison ab 500 Euro. Weitere Informationen auf der Homepage von Visit Seattle.
Unterkunft: Das Hotel Ändra befindet sich mitten in der Stadt und versteht sich als Hotel, in dem sich vor allem Europäer wohlfühlen, ab 200 $ im DZ.
Mobilität: Seattle verfügt über ein gut ausgebautes ÖPNV-System inklusive Flughafenanschluss. Innenhalb der Stadt bietet sich auch die Sharing-Systeme von Lime (li.me) und Veo (veoride.com), die E-Bikes und Roller anbieten.
Text und Bilder zum Städtetrip nach Seattle: Ralf Johnen, Januar 2023. Die Geschichte ist mit Unterstützung des Port of Seattle zustandegekommen. Die Firma betreibt den Flughafen SeaTac sowie den Hafen.
2 Comments
…macht sehr viel Lust auf eine Reise nach Seattle…..Manni.
So soll es sein! Vielen Dank.