Auf Achill Island in Irland tragen Kinder auch im Winter oftmals keine Schuhe. Diese nüchterne Beobachtung war in den 1950er Jahren einem deutschen Schriftsteller vorbehalten. So bitter war die Armut im Nordwesten des Eilands damals. Heute unterdessen reicht der Wohlstand fast flächendeckend für ein höchst funktionales Kleidungsstück: den Ganzkörper-Neoprenanzug. Dessen Einführung hatte laut Surflehrer Gerry Brennigan einen frappierenden Effekt: „Seit es preiswerte Wetsuits gibt, ist Irland zu einem Badeziel geworden.“
Wärmer als 15 Grad allerdings wird der Atlantische Ozean auch im Hochsommer nur selten. Dennoch aber herrscht heute am Keel Beach ordentlicher Betrieb. Vor allem Kinder nehmen den Kampf gegen die Brandung furchtlos auf. Doch überall dort wo Wellen aufschlagen, sind in der Regel auch Surfer nicht weit. Dutzende Wellenreiter warten liegend auf den Moment, in dem sich das Wasser auf viel versprechende Weise auftürmt. Kurz vor dem Überschlag der Krone holen sie mit den wohl trainierten Armen Schwung. Erwischen sie die Welle, wagen sie den für Normalbürger kompliziertem Sprung in die Vertikale.
Karibische Illusionen
Gerry Brennigan beobachtet das Geschehen aus der oberen Etage eines Doppeldeckerbusses. Das türkise Wasser, der makellose Sandstrand und die Wellenreiter, das alles, scherzt er, könne von hier aus dem Vergleich mit der Karibik standhalten. Wäre die sichelförmige Bucht nicht auf der einen Seite von Mount Croaghan und auf der anderen von Mount Minaun eingefasst. Zwei schroffe, waldlose Berge, wie sie nun einmal eher für Irland typisch sind.
Auch an diesem makellosen Sommertag gehen gelegentlich ohne Ankündigung Regenschauer nieder. In diesen Momenten zieht sich der heute 57-Jährige in sein Vehikel zurück. Der himmelblaue Bus aber ist nicht nur ein willkommener Unterschlupf, sondern zugleich Umkleidekabine der Blackfield Surf School. Diese hat Brennigan auf Achill gegründet.
Zudem ist der Bus eine Aussichtsplattform: Vom Oberdeck können Besucher über die Dünen bis zum Meer blicken. Noch müssen sie sich dabei mit Tee oder Kaffee begnügen, doch der Mann aus Belfast ist wild entschlossen, den Behörden eine Lizenz zum Ausschank alkoholhaltiger Getränke abzuringen. „Dann gibt es im kommenden Jahr eine Weinbar mit Blick auf den Sonnenuntergang.“
Besuch von Delfinen auf Achill Island
Selbst wenn die Brandung ausbleibt, ist der rund sechs Kilometer lange Strand gut für manches Spektakel. Wie Connie Hebs erzählt, „tummeln sich dann zuweilen Delfine in der Bucht“. Auch Wale und bis zu zehn Meter lange Walhaie kann man manchmal von der Küste aus sehen. Vor einigen Jahren ist die junge Frau aus Thüringen auf das größte vorgelagerte Eiland Irlands ausgewandert.
Nach einer ersten Ferienfreizeit konnte die gelernte Sozialarbeiterin nicht anders, als so oft wie möglich nach Achill Island zurückzukehren. Irgendwann mochte sie auf die schroffe Landschaft, die freundlichen Leute, den melodischen Singsang des irischen Englisch und die herrliche Luft nicht mehr verzichten.
- Heute arbeitet Hebs im Tourismus, der sich über die Jahre zum wichtigsten Standbein für das County Mayo entwickelt hat. Beim Aufstieg auf den Mount Slievemore, den mit 671 Metern höchsten Gipfel der Insel, führt sie uns zu einem gespenstischen Ort. „Deserted village“, ein Dorf, das die Bewohner während der großen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgegeben haben.
Die Ruinen von gut100 Steinhütten erinnern sehr plastisch an das größte Trauma der Iren. „Hoffentlich“, sagt Connie Hebs nachdenklich, „wiederholt sich die Geschichte nie wieder“. Doch das ist alles andere als sicher: Durch die anhaltende Wirtschafts- und Schuldenkrise sind vor allem die Männer im Alter von 25 bis 40 heute wieder gezwungen, ihr Glückandernorts zu suchen.
Orte der Krisenbewältigung
Zu einer eher kurzfristigen Krisenbewältigung haben die Iren mmer noch ihre Pubs. Der kleinste im Nordwesten des Landes ist „Lynotts“, eine rustikale Kneipe, die ein ehemaliger Dorfpolizist in einem Steinhaus betreibt. Auf einer Fläche von nicht mehr als fünf mal neun Metern feiern die Einheimischen hier das Leben so gut es geht. Mit frisch gezapftem Guinness, melancholischen Liedern und gebührendem Spott für die einstigen Besatzer. An einer Wand hängt ein Plakat, das die Machtverhältnisse im europäischen Fußball zeigt. Wider besseres Wissen hat jemand darauf die britische Hauptinsel ausradiert und durch ein vielfach vergrößert dargestelltes Irland ersetzt.
Ein paar Kilometer weiter östlich auf dem Festland zeigt sich im entzückenden Städtchen Westport, dass der Ballsport, wie wir ihn kennen, hier ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auf der Insel spielen echte Kerle „Gaelic Football“. Es ist eine temporeiche Abwandlung des Rugby, bei welcher der Ball auch mit den Händen aufgenommen und bewegt werden darf. Jede Mannschaft zählt 15 Spieler. Während lupenreine Tore mit drei Punkten honoriert werden, erhalten die Mannschaften auch für Schüsse über die Latte einen Zähler.
An diesem Tag tritt das Team des County Mayo in der fernen Hauptstadt Dublin gegen den Erzrivalen aus Kerry an. Der Gegner gilt als eine Art Manchester City des gälischen Fußballs: Finanzstark und fast unbezwingbar. Dennoch sind die örtlichen Pubs voller Optimisten, die im grünroten Trikot die heimische Mannschaft anfeuern. Es ist vergebene Liebesmüh, die bald eine erhöhte Inanspruchnahme der Zapfhähne nach sich zieht.
Heinrich Bölls Tagebuch
Bliebe noch der eingangs erwähnte Schriftsteller, der auf Achill Island eine zweite Heimat gefunden hat. Heinrich Böll, durch dessen „Irisches Tagebuch“ die Deutschen Land und Leute erstmals richtig wahrgenommen haben. Ganz ähnliche wie Hebs konnte sich der aufstrebende Autor nicht mehr von Achill Island lösen, als er und seine Familie sich 1955 einen Urlaub am Keel Beach geleistet haben. Später sollte Heinrich Böll ein kleines Anwesen nahe der Nordküste erwerben, das bis heute seinen Namen trägt und sich noch immer noch im Besitz der Familie befindet.
Seit 1992 dient das ehemalige Domizil Kreativen wie David O’Donaghue als temporäre Bleibe. Der Historiker aus Dublin hat sich erfolgreich für einen vorrübergehenden Aufenthalt beworben, den er für Arbeiten an seinem ersten Roman nutzt. In dem gemütlichen Haus duftet es nach einem Torfofen herkömmlicher Bauart. An den Wänden hängen diverse Aquarelle, die Szenen aus Bölls Leben zeigen. Der Ausblick auf den Atlantik, der Böll so inspiriert hat, bleibt dem Bewohner der Gegenwart allerdings versagt. Eine Hecke versperrt den Blick aufs Meer. Auf den Ozean mag der Schriftsteller dennoch nicht ganz verzichten: „Ich lasse mich jeden Tag auf dem Fahrrad den Berg herunterrollen und nehme ein ausgedehntes Bad.“ Ohne Neoprenanzug, so wie zu Bölls Zeiten.
Informationen zu Achill Island:
Die Anreise nach Achill Island ist am bequemsten per Flugzeug via Dublin, zum Beispiel mit Air Lingus oder Lufthansa. Weiter geht es per Mietwagen etwa vier Stunden bis nach Achill Island. Achill Island ist über eine rund 200 Meter lange Brücke mit dem Festland verbunden.
Achill Island bietet sich auch zum Radfahren, Wandern, Fischen, Reiten und Golfen an. Die Firma Electric Escapes bietet Outdoor-Touren zum Beispiel per E-Bike und Kajak an. Die Surfsaison auf Achill Island läuft in der Regel von Juni bis Anfang September. Die Surfschule Blackfield Surf School bietet 120-minütige Einführungskurse schon ab 15 Euro an.
Im Mai findet jedes Jahr ein Heinrich-Böll-Wochenende auf Achill Island statt. Philologen und andere Kenner kommen dann auf der Insel zusammen.
Bereits ab 250 Euro pro Woche sind kleine Ferienhäuser zu haben. Komfortabel ist das Mulranny Park Hotel zwischen Achill Island und Westport. Es handelt sich um ein ehemaliges Eisenbahnhotel, das gerade wieder eröffnet wurde.
Alle weiterführenden Informationen zu Irland unter www.discoverireland.com/de
Text und Fotos: Ralf Johnen, aktualisiert im April 2021. Das irische Fremdenverkehrsamt hat die Reise zu den Spuren von Böll unterstützt.
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