Macon ist die vergessene Hauptstadt des Rock’n’Roll. Hier im Bundesstaat Georgia ist Little Richard zur Welt gekommen und hat Otis Redding seine Karriere begonnen. Mit den Allman Brothers hat jedoch auch der Südstaatentrock hier seine Wurzeln. Nichts wie weg hier. Das ist unser beider Gedanke, nachdem wir den Stadtpark von Macon angesteuert haben. Hier sollte das Epizentrum des Cherry Blossom Festival sein – Gegenstand eines Rechercheauftrags und in irgendeinem Ranking angeblich eines der Top 100-Ereignisse in Nordamerika.
Angekommen auf der Wiese aber stellen wir schnell fest, dass wir nicht in der Stimmung sind für Pink Margheritas und allerlei anderem Kitsch, der in fragwürdiger Farbensprache formuliert ist. Beim Anblick eines Tigerkäfigs, in dem traurige weiß gestreifte Tiere auf kostenpflichtige Fütterung warten, ist es endgültig vorbei.
Kirschblüten und Rock’n’Roll
Also machen wir uns deprimiert vom Acker. Es ist Sonntagnachmittag und wir sind uns nicht ganz sicher, ob es in diesem Provinzstädtchen etwa zwei Autostunden südöstlich von Atlanta irgendetwas gibt, das unseren Aufenthalt rechtfertigen würde.
Für ein Bier ist es noch zu früh, also beschließen wir, den Tag nicht sang- und klanglos aufzugeben. Wir setzen uns ins Auto. Ohne Ziel. Vielleicht sehen wir ja ein paar Kirschbäume. Um die 300 000 davon soll es in und um Macon geben. Bestimmt kein schlechter Anblick jetzt, Mitte März, wenn sie alle in voller Blüte stehen.
Der Ausflug in die hügeligen Suburbs entpuppt sich als passable Idee: Kirschbäume, verwehte Blüten und rosa Devotionalien von abermals zweifelhaftem Geschmack soweit das Auge reicht. Dazwischen: Freundlich lächelnde Menschen, die sich über die Aufmerksamkeit freuen. Sie kennen das Spielchen mittlerweile, denn das Cherry Blossom Festival findet seit 1982 statt.
Nachdem ein Makler namens William A. Fickling die japanische Kirsche im Jahr 1954 aus Washington DC in den heimischen Garten importiert hatte, haben die Bewohner von Macon so viel Freude an dem Zierholz gefunden, dass sie mächtig aufgeforstet haben und ihre Stadt nunmehr selbstbewusst als Kirschbaumhauptstadt der Welt bezeichnen.
Otis Redding und die vergessene Hauptstadt des Rock’n’Roll
„Schön“, denken wir uns, als wir auch die haushohen Rhododendren gebührender Blicke gewürdigt haben. Zurück in der Stadt wissen wir jedoch immer noch nichts so recht mit uns anzufangen. Wir schlendern an einem Fluss entlang und sehen: Kirschbäume. Dazu versonnen in die Landschaft blickende Pärchen, eine kleine Statue und einen wackelig aussehenden Bahndamm, über den – ganz ohne Geländer – kilometerlange Güterzuge rumpeln. Ein Sinnbild der bröckelnden Infrastruktur dieses Landes.
Später bestellen wir uns einen Burger mit Jalapenos und ein paar Sam Adams. Der Laden ist ein Relikt aus vergangenen Tagen: Neonwerbung, karierte Tischdecken und Jugendliche mit stattlichen Rockybilly-Tollen. Für einen Sonntagabend in Small Town USA ist es gut voll. Beim dritten Bier kommen wir mit Susan ins Gespräch, die uns fragt, was wir hier treiben.
Nachdem meine Antwort etwas unentschlossen ausfällt, fragt Susan: „Habt ihr diese kleine Statue gesehen, unten am Fluss?“ „Ja“, sage ich, ohne dass wir beachtet hätten, wem da gehuldigt wird. „Kennt ihr Otis Redding?“ „Klar“, entgegne ich. Das ist der Startschuss für eine kleine Geschichtsstunde über Georgia und Musik, die mit einer Verabredung für den nächsten Tag endet. Susan möchte uns erklären, warum Macon als vergessene Hauptstadt des Rock’n’Roll gelten darf.
Pleasant Hill ist ein Überbleibsel der Rassentrennung
Am nächsten Morgen steigen wir am verabredeten Ort in Susans Wagen. „Als erstes werde ich mit euch nach Pleasant Hill fahren“, sagt sie. Das klingt nach einem guten Plan für einen sonnigen Frühlingstag. Wir sind berauscht von den neoklassizistischen Südstaatenvillen, die den Südrand des Hügels flankieren. Hinter der Kuppe aber befinden wir uns plötzlich im Wasteland. „Hier leben die Afroamerikaner“, sagt Susan mit apologetischem Tonfall.
Nach kurzer Zeit hält sie an. Wir steigen aus und stehen vor einer unscheinbaren Baracke, deren rosafarbener Anstrich bröckelt. „Das hier ist das Geburtshaus von Richard Wayne Penniman.“ Stefan und ich blicken uns fragend an. „Er ist besser als Little Richard bekannt“, ergänzt Susan. „Tutti Frutti. Der Mann, der den Rock’n’Roll auf eine neue Ebene gehoben hat.“
Überall hier in Georgia, fährt Susan fort, gibt es diese musikhistorischen Monumente. Und Little Richard wurde halt in diesem Haus geboren. Wir nennen sie „Shotgun Houses“, weil sie im Grunde nur aus einem Raum bestehen, wo eine Pistolenkugel ungehindert durchfliegen kann. Während wir Susans Geschichte lauschen, fällt mein Blick auf einen alten Karren, der vier Plattfüße hat. Wir hören den Lärm der nahen Autobahn, dem Interstate 75, der eine Schneise durch Pleasant Hill geschlagen hat. Die Südstaatenvillen stehen ja auf der anderen Seite des Hügels.
Otis Redding ist in Macon zur Schule gegangen
Während Susan weiter über den flamboyanten Musiker redet, der ab 1955 im damals schon eher liberalen Macon die Grundzüge seiner Karriere gelegt hat, geht die Haustüre auf. Wir fühlen uns auf einmal sehr indiskret. Susan aber winkt entspannt und der Bewohner erwidert den Gruß träge. Nur ein paar Schritte entfernt führt uns Susan zu einem weiteren Haus. Es steht direkt neben dem Highway. Hier hat Richard seine Jugend verbracht.
Zurück im Auto bringe ich das Gespräch nochmal auf Otis Redding. „Ja“, sagt Susan. „Der ist zur Ballard Hudson High School gegangen. Ihr wisst ja, dass er jung gestorben ist. Mit 26, bei einem Flugzugabsturz. Er hat einen Großteil seines Lebens in Macon verbracht.“ Daher auch die lebensgroße Statue im Gateway Park, unten am Fluss. „Ich zeige euch, wo er seine ersten Auftritte hatte.“
Susan fährt nach Downtown und hält vor einem dieser Backstein-Theater, die in so vielen amerikanischen Städten an die glorreichen Zeiten vor den Multiplex-Kinos erinnern. Auch Douglass-Theatre scheint seine besten Tage hinter sich zu haben. „Hier hatte Otis seine ersten Auftritte.“ 15 Mal am Stück hat er einen Wettbewerb gewonnen, bis er nicht mehr zugelassen wurde. „Damals“, so Susan, „hatten wir hier noch diese Gesetze. Weiße und Schwarze durften nicht in einem Raum sein. Dann sind die Weißen halt auf den Balkonen ausgerastet.“
Auch Little Richard stand in der vergessenen Hauptstadt des Rock’n’Roll auf der Bühne. In den 70ern dann musste das Haus schließen, ehe ihm 1997 als lokale Gedenkstätte von der Stadt neues Leben eingehaucht wurde. Ich pfeife „Old Man Trouble“ vor mich hin.
James Brown hat lange in Macon gelebt
Wir gehen schweigend weiter. Bis sich Susan wieder meldet: „Auch James Brown hat lange in Macon gelebt.“ Ab 1955, bis in die frühen 60er. Er war damals noch kein Star. Aber seine damalige Band, die „Famous Flames“, hat das Demo für ihre erste Single „Please, please, please“ in Macon, Georgia, aufgenommen. In den Studios des Radiosenders WIBB.
Susan mag gar nicht mehr aufhören. Sie kutschiert uns zum „Big House“, wo sich 1969 die just aus Florida arrivierten Allman Brothers niedergelassen haben. „Das sind die Architekten des Southern Rock“, sagt Susan mit nicht nachlassender Begeisterung. Nachdem Southern Rock gerade salonfähig geworden war, ist Band-Leader Duane Allman 1971 bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. „Wollt ihr sein Grab sehen?“ Klar wollen wir.
Als wir auf dem Rose Hill Cemetery ankommen, ist der Nachmittag bereits weit fortgeschritten. Das Grab von Duane Allman ist eingezäunt, die Gitterstäbe sind mit Fett eingerieben. Immer wieder wollten Fans ihrem Idol nahe sein. Es riecht nach Kirschblüten. Und unser Tag mit den Musikern von Macon, Georgia, endet wie er begonnen hat: Auf einem Hügel, wo die Menschen von einander getrennt sind. Diesmal aber sind es nicht die Schwarzen und die Weißen, sondern die Toten und die Lebendigen.
Informationen über Macon, die vergessene Hauptstadt des Rock’n’Roll
Die Geschichte über Macon, Georgia, hat ein paar Jahre in mir gegärt, ehe sie nun plötzlich hinauswollte. Am Morgen unserer Abreise haben wir uns noch die Georgia Rock’n Roll Hall of Fame angesehen. Hier wurde neben den genannten Helden auch die B 52’s und R.E.M. (beide aus Athens) und Country-Ikone Gram Parsons (Waycross) gedacht. Im Dezember 2012 wurde das Museum geschlossen – weil der Staat seine Zuschüsse gestrichen hat und es zu wenig Besucher gab.
Auch das Geburtshaus von Little Richard steht nicht mehr in Pleasant Hill, weil es einer Erweiterung der besagten Autobahn zum Opfer zu fallen drohte. Das Haus aber wurde gerettet und an im März 2014 anderer Stelle wieder aufgebaut. Hier soll nun ein Little Richard-Informationszentrum entstehen.
Das Tourismusbüro trägt den schönen Namen Georgia on my Mind. Das Kirschblütenfestival hat die Domain Cherry Blossom und ob dieser unübersehbaren Relevanz vielleicht einen zweiten Blick verdient. Das Douglass Theatre ist noch in Betrieb. Auch Grant’s Lounge existiert weiterhin, das Lokal nennt sich jetzt mit viel Sinn für Geschichte Historic Grant’s.
Text und Bilder über die vergessene Hauptstadt des Rock’n’Roll: Ralf Johnen, aktualisiert im Mai 2021. Der Autor war mit Unterstützung von Georgia Tourism in Macon.
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[…] Einige Rock’n’Roll Größen kamen aus Georgia – und Ralf nimmt Dich mit auf seine Reise dorthin. Spannend, da habe ich dann wieder einiges gelernt. […]