Auf halber Strecke zwischen Braunschweig und Magdeburg sind die Schöninger Speere zu sehen. Dabei handelt es sich um die ältesten je von Menschenhand angefertigten Jagdwaffen. Doch diese archäologische Besonderheit sind nicht die einzigen Gründe für einen Besuch in Schöningen.

Wachsfigur des Homo heidelbergensis im Forschungsmuseum Schöningen
Große Themen waren in Schöningen schon vor Generationen präsent. Schließlich war das Städtchen mehr als vier Jahrzehnte lang nur einen Steinwurf von der innerdeutschen Grenze entfernt. Die geopolitische Demarkationslinie ist schon lange wieder Geschichte. Doch Reste der Mauer zwischen West und Ost sind ebenso wie ein Grenzturm immer noch prominent in der Landschaft vertreten.

Zugiger Arbeitsplatz: Grabungszelt im Tagebau Schöningen
Die Schöninger Speere: Wendepunkt der Menschheitsgeschichte
Auch Jordi Serangeli ist mit diesem Aspekt der Geschichte vertraut. Doch der Archäologe meint, dass die historische Bedeutung des unscheinbaren Schöningen weit über die innerdeutsche Geschichtsschreibung hinausgeht. Am Rande eines mittlerweile stillgelegten Tagebaus erklärt er, dass Archäologen im äußersten Osten von Niedersachsen auf die Schlüsselindizien für einen Beweis von großer Tragweite gestoßen sind: die Schöninger Speere.

Noch mehr Speere? Der Archäologe Jordi Serangeli untersucht die Erdschichten im Tagebau Schöningen
Wie der Italo-Katalane präzisiert, handelt es sich dabei um fünf etwa 300 000 Jahre alte Holzspeere. »Die ältesten von Menschenhand gefertigten Waffen, die je auf der Erde gefunden wurden.« Als solche erlauben die zwischen 1994 und 1998 im örtlichen Tagebau sichergestellten Funde weitreichende Rückschlüsse über den Homo heidelbergensis. Dieser lebte seinerzeit in Europa lebte und sollte sich später zum Neandertaler weiterentwickeln.

Auerochsen, Waldelefantenund Nashörner waren vor 300 000 Jahren in Norddeutschland ein gängiger Anblick
Waldelefanten und Löwen in Niedersachsen
Seinerzeit hatten Walselefanten, Löwen, Bären, Nashörner und andere Säugetiere die Region fest im Griff. Der Mensch musste sich den Lebensraum mit den Räubern teilen. »Eigentlich«, so der 55-Jährige, »waren die Tiere dem Homo heidelbergensis deutlich überlegen.« Doch durch die bewusste Anfertigung der Waffen und deren gezielten Einsatz habe der frühe Vorläufer des Menschen dessen Entwicklung zur dominierenden Spezies auf dem Planeten den Weg geebnet.

Bliebtes Ausflugsziel: Schülerinnen und Schüler wohnen den Grabungsarbeiten zu den Schöninger Speeren im Tagebau bei
Mithilfe seiner Intelligenz und handwerklicher Fähigkeiten habe er aus Fichten- und Tannenholz Waffen gefertigt, mit denen Wildpferde als Nahrungsquelle jagen und die Angriffe von Raubtieren abwehren konnte. »So konnte er die Vorherrschaft über den gemeinsamen Lebensraum erlangen.«

Schicht für Schicht tragen Archäologen den Erdboden im Tagebau Schöningen auf der Suche nach Fundstücken ab
Erst Paläon, dann Forschungsmuseum Schöningen
Der bei der Universität Tübingen angestellte Serangeli betreut die Ausgrabungen in Schöningen bereits seit 2008. Sein bis unter die Decke mit inventarisierten Ausgrabungen bestücktes Büro befindet sich im öffentlich nicht zugänglichen Trakt eines Museums, dessen Bau die Tragweite der Funde fast zwangsläufig nach sich gezogen hat.

Außenansicht des Paläon Schöningen, das mittlerweile als Forschungsmuseum firmiert
Die Stadt hat es 2013 unter dem Namen »paläon« etwa drei Kilometer südöstlich von Schöningen eröffnet, obwohl viele Einheimische Vorbehalte hatten. Wer reise schon in die dünn besiedelte Region, um sich ein paar verwitterte Waffen aus der Steinzeit anzusehen?

Den Tagebau immer im Blick: Innenleben des Forschungsmuseums Schöningen
Glanzvoller Museumsbau
Die Einwände waren nicht unberechtigt: Trotz der archäologischen Sensationen und eines glanzvollen Entwurfs des Zürcher Büros Holzer Kobler Architekturen blieb das Museum in seinen Anfangsjahren eher unbeachtet. Mitte 2019 musste das in finazielle Schieflage geratene »paläon« schließen, wonach das Landesamt für Denkmalpflege von Niedersachsen übernahm, um es zum Forschungsmuseum Schöningen umzuwidmen.

Die Umgebung spiegelt sich im Bau – so wollten es die Architekten des Forschungsmuseums Schöningen
Seit dem 1. Januar 2025 fungieren die »3Landesmuseen Braunschweig« als dritter Träger. Doch bis heute können Besucher den Eindruck gewinnen, dass das Ausstellungshaus etwas verloren in der Gegend herumsteht – zumal es mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum erreichbar ist.

War in Niedersachsen heimisch: Animation eines Tigers im Tagebau Schöningen
Säbelzahnkatze
Allerdings birgt das Museum weit mehr als nur verwittertes Holz. Der aufwendig gestaltete Lehrpfad durch die Altsteinzeit beginnt im Foyer mit Bodenabstrichen, die effektvoll auf Sichtbeton aufgetragen sind. Durch Aussparungen an den Außenwänden fällt der Blick hier immer wieder auf den nahen Tagebau.

Mehr als nur ein paar morsche Waffen: die Vitrine mit den Schönigner Speeren
In den eigentlichen Ausstellungsräumen sind neben Steinwerkzeugen auch beeindruckend gut erhaltene Schädel von Wildpferden und Auerochsen zu sehen, die der Grabungsstätte entstammen. Es folgen Jagdszenen mit Wachsnachbildungen des Homo heidelbergensis und schließlich der aktuelle Star der Ausstellung.

Erwartbar groß, unerwartet alt: die Schöninger Speere
Es ist die Rekonstruktion einer Säbelzahnkatze. Deren Relikte wurden 2012 gefunden und sind in etwa so groß war wie die Löwen von heute. Die fünf vollständig erhaltenen und bis zu 2,50 Meter langen Speere sind am Ende des Parcours in einer beleuchteten Vitrine aufgebahrt.

Skulptur des Homo heidelbergensis mit den Schöninger Speeren
Schillerndes Bauwerk mit Blick auf den Brocken
Dank seiner Spiegelfassade besitzt das Museum auch von außen eine gewisse Strahlkraft. Vom Parkplatz ist bei klarer Witterung der höchste Gipfel des Harz mit bloßem Auge sichtbar. Kein unwichtiges Detail, denn der 1141 Meter hohe Brocken muss den Menschen laut Serangeli schon in der Altsteinzeit als Orientierungshilfe gedient haben.

Bald Weltkulturerben? Schöningen öffnet sich langsam für den Tourismus
Die meisten Tiere hingegen hätten den Berg gemieden, um in der zugänglicheren Ebene nach Futter zu suchen. Deshalb wohl habe es hier eine hohe Dichte an konkurrierenden Spezies gegeben. Erst später haben Klimaveränderungen die Region zunächst mit einem Eispanzer und später mit einem See überzogen. Dessen Sedimente schließlich haben die Fundstücke der Gegenwart luftdicht konserviert.

Blickfang: Skulptur eines Waldelefanten
Die Schöninger Speere: Nebenprodukt der Braunkohleförderung
Ans Tageslicht gekommen ist all dies durch die Braunkohleförderung, die Archäologen routinemäßig durch die Entnahme von Bodenprofilen begleitet haben. Der Tagebau war bis 2016 in Betrieb und hat eine tiefe Narbe in der Landschaft hinterlassen. An seiner Nordflanke erinnert das 2020 gleichfalls stillgelegte Kraftwerk Buschhaus an die Weiterverarbeitung der Kohle zu Strom.

Bis heute das höchste Bauwerk Niedersachsens: der 307 Meter Turm des Kraftwerks Buschhaus
Sein 307 Meter hoher Turm ist nicht nur ein weithin sichtbares Fanal fossiler Energiegewinnung, sondern bis heute das höchste Bauwerk Niedersachsens.

Die Vergangenheit ist in Schöningen immer noch sehr präsent. Sei es in Form von Speeren oder der innerdeutschen Mauer
Schöningen ist Kandidat fürs Weltkulturerbe
Was die Erde in Zukunft noch freigibt, steht in den Sternen. Fest steht lediglich, dass Serangeli und sein Team weitergraben. Auch ist im Museum eine Restauratorin tätig, die sich der Konservierung etwaiger Funde annimmt. Begleitet wird ihre Arbeit von der nun abermals realen Hoffnung auf mehr Aufmerksamkeit, da Schöningen seit 2023 auf der Kandidatenliste für das Weltkulturerbe steht.

Blick auf den ehemaligen innerdeutschen Grenzzaun bei Schöningen in Niedersachsen
Laut Serangeli hat die zuständige Kommission kaum eine andere Wahl, als den Antrag positiv zu bescheiden. »Dies hier ist eine weltweit einzigartige Fundstelle, wo Holz, Knochen, Pflanzenreste und Samen im Erdboden konserviert sind. Das ist sehr ungewöhnlich.«

Gelebte Geschichte: Schöningen lag lange im deutsch-deutschen Grenzgebiet. Relikte der Mauer erinnern an diese Epoche
Die Steinzeit erhält Einzug ins Stadtbild
Die Zuerkennung des Ehrentitels dürfte allerdings mindestens bis 2030 dauern. Unterdessen scheint sich Schöningen im zweiten Anlauf auf seine neue Rolle vorzubereiten. Fremdelten die Einheimischen zunächst mit dem plötzlichen Interesse an ihrem Lebensmittelpunkt, so erhält die Steinzeit langsam Einzug ins Stadtbild. Auf dem von hübschen Fachwerkhäusern umringten Burgplatz macht eine großformatige Metallskulptur des Künstlers Peter Tuma auf die Funde aufmerksam.

Auf Steinzeit getrimmt: Pissoirs in einem Supermarkt in Schöningen
Der abgebildete Homo heidelbergensis ist historisch akkurat mit einem Speer bewaffnet. Ein paar Kilometer weiter am Tagebau erläutern Schautafeln die ergiebigen Funde. Wer sich am Parkplatz zu einem Wanderrevier bei der Gaststätte Elmhaus einfindet, wundert sich über die vier Meter hohe Skulptur eines Mammuts. Und im größten Supermarkt Schöningens regeln Ampeln mit Piktogrammen von Steinzeitmenschen den Verkehr an den Kassen.

Historisch wenig akkurat: Piktogramm eines mit Keule bewaffneten Steinzeitmenschen auf der Herrentoilette
Mit Keulen bewaffnet
Ebenso wie ihre Pendants an den Kundentoiletten sind diese allerdings nicht mit Speeren, sondern mit Keulen bewaffnet. Laut Serangeli ein fundamentales Missverständnis der Geschichtsschreibung, das nach dem Fund der Schöninger Speere in den Darstellungen von Steinzeitmenschen korrigiert werden müsse.

Piktogramme von Steinzeitmenschen an der Kasse eines Supermarktes in Schöningen
Informationen über Schöningen und seine Speere

Vitrine im Forschungsmuseum Schöningen mit Fundstücken, die mehrere Hunderttausend Jahre alt sind
Das Forschungsmuseum Schöningen (Paläon 1, 38364 Schöningen) ist von März bis Oktober dienstags bis sonntags von 10 Uhr bis 17 Uhr geöffnet. November bis Februar: Mittwoch bis Sonntag 11 Uhr bis 17 Uhr. Der Eintritt kostet 9 Euro (Kinder 4 Euro).
Grenzdenkmal Hötensleben: Lange Trift/Schöninger Str. Hötensleben, grenzdenkmal.com

Ein schöner Ort zum Ausruhen: Braunschweiger Burg mit Denkmal für Heinrich den Löwen
Kombination mit Citytrip nach Braunschweig
Das knapp 45 Kilometer nordwestlich von Schöningen gelegene Braunschweig ist ein guter Ausgangspunkt für den Besuch Schöningens. Hier geht es zu unserer relativ ausführlichen Geschichte über ein Wochenende in Braunschweig.
Text und Bilder: Ralf Johnen, zuletzt aktualisiert im Oktober 2025. Tourismus Marketing Niedersachsen hat unsere Reise nach Braunschweig und zu den Schöninger Speeren unterstützt.







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