Im Grand Hotel des Iles Borremées hat sich der Schriftsteller 1918 von seinen Kriegsverletzungen erholt. Gleichzeitig hat Hemingway am Lago Maggiore zu seinem Talent gefunden, die schönsten Orte der Welt für sich zu entdecken, ehe andere sie ruinieren konnten. Ein Ortsbesuch in Stresa.
Wenn ich nur noch einmal verreisen könnte, müsste das Ziel der Lago Maggiore sein. Bei diesem Gedanken habe ich mich früher öfter erwischt. Allein der wohlklingende Name. Oder das Azurblau des Sees, das Vergangenheit und Zukunft belanglos scheinen lässt. Dazu der Anstrich der Villen am Ufer, mal karmesinrot und dann wieder ockerfarben, gleichermaßen hinreißend, egal ob mit oder ohne Patina.
Und im Hintergrund die Berge, deren dicht bewaldete Flanken sich in mehreren Reihen immer höher in den Himmel schrauben, als seien sie sich ihrer Verantwortung sehr bewusst, eine makellose Kulisse abgeben zu müssen. Ganz ähnlich wie die Kellner und Bootskapitäne, deren Uniformen eine Ernsthaftigkeit ausstrahlen, die das Reisen andernorts verloren hat.
Hemingway in Italien: Bewährungsprobe als Sanitäter
Immer wieder habe ich den Lago Maggiore in klaren Farben und unscharfen Bildern vor mir gesehen, seit ich zum ersten Mal Ernest Hemingways »In einem anderen Land« (»A Farewell to Arms«) gelesen habe. Der traurige, recht autobiographische Roman über den Einsatz des jungen Hemingway, der in den italienischen Voralpen als Ambulanzfahrer tätig ist.
Von Ehrgeiz und Erlebnisdrang angetrieben, meldet sich der 19-Jährige aus Oak Park in der Nähe von Chicago als Freiwilliger beim Roten Kreuz. Er möchte italienischen Soldaten in den finalen Monaten des Ersten Weltkriegs zur Seite zu stehen. Vor allem aber kann er – endlich! – das puritanische Amerika verlassen und Stoff für seine Geschichten sammeln.
Glück in der Nähe von Schio
An einer mehr als 600 Kilometer langen Front kämpfen italienische Soldaten erbittert gegen die Streitkräfte von Österreich-Ungarn. Dort muss der junge Autor seine Abenteuerlust und seinen Idealismus schon nach wenigen Wochen teuer bezahlen.
Westlich von Venedig wird er bei der Ortschaft Schio von einer Granate verletzt, während er in einem Schützengraben Schokolade aushändigt. 227 Splitter müssen die Ärzte aus seinem Körper entfernen. Dabei hat Hemingway Glück: neben ihm stirbt ein Soldat, ein anderer verliert beide Beine.
Hemingway am Lago Maggiore: Eine erste große Liebe
Nach der Verletzung verbringt der angehende Autor einige Tage in einem Mailänder Krankenhaus. Dort lernt er die Krankenschwester Agnes von Kurowsky kennen, die sich seiner annimmt. Hemingway verliebt sich und schmiedet Pläne für eine gemeinsame Zukunft mit der sechs Jahre älteren Amerikanerin deutscher Abstammung, doch so weit kommt es nie: Agnes bleibt in Italien, wo sie wenig später mit einem Offizier anbandelt.
Der junge Autor ist enttäuscht, aber nicht verbittert. 1929 dient ihm die Krankenschwester als Vorbild für die Figur der Catherine Barkley, in deren Gesellschaft Romanheld Frederic Henry für einige Tage auf Erholungsurlaub geschickt wird.
Stille Tage am Lago Maggiore
Ziel ist der Lago Maggiore, wo Hemingway die Augen übergehen. In sicherer Entfernung zum Kriegsgeschehen kann er im Grand Hotel des Iles Borremées für die Dauer von zehn Tage ein Zimmer beziehen.
Der Aufenthalt in Stresa wird zur Grundlage für die letzten Szenen seines zweiten Romans. Auch nimmt sich der stets so maskulin und unverwundbar auftretende Autor im weiteren Verlauf seines Lebens immer wieder Zeit, an diesen für ihn biographisch so wichtigen Ort zurückzukehren.
Hemingways verletzliche Helden
Ich habe »A Farewell to Arms« bestimmt fünf oder sechs Mal gelesen. Während ich Hemingways Markenbildung als ungestümer Boxer, Stierkampffreund und Afrika-Abenteurer nie sonderlich spannend fand, mag ich seine ersten Bücher sehr. Es ist eine Welt, die seinem tatsächlichen Leben diametral gegenübersteht. Mit verwundbaren Männern und tapferen Frauen, die kurze Haare tragen und die sich schon vor knapp 100 Jahren nichts vormachen lassen.
Ganz davon abgesehen hatte Ernest Hemingway ein Faible dafür, die schönsten Orte für sich zu entdecken, ehe Tourismus und Kommerz sie verdorben haben. Paris in den Zwanzigern, Key West bevor es dort Strom und Wasser gab, Kuba lange vor Castro und Ketchum in Idaho, als es gegen Ende seiner Tage noch einmal die Weite Amerikas sein sollte.
Romantische Flucht im Ruderboot
Ein paar dieser Orte habe ich gesehen. Trotz vieler Reisen und anhaltender Neugier aber habe ich es nie an die Ufer des Sees gebracht, der Italien mit der Schweiz verbindet.
Jene Route also, die Frederic Henry und Catherine Barkley an Bord eines Ruderbootes zurücklegen, um das verwundete Italien und die Waffen des erbarmungslosen Krieges hinter sich zu lassen, um eine Zukunft in der neutralen Schweiz zu beginnen.
Ein Mann, größer als das Leben
Schon bald nachdem Hemingway »In einem anderen Land« 1929 veröffentlicht, wird sein Mythos größer, als es ein Autor allein aufgrund seiner Werke je sein kann. Der Mann lebt nicht nur an den schönsten Orten der Welt, bevor andere überhaupt davon gehört hatten.
Er umgibt sich mit ebenso schönen wie wohlhabenden Frauen. Auch lässt Hemingway vom spanischen Bürgerkrieg über Stierkampf bis hin zur Großwildjagd in Tansania und Kenia nichts aus, was ein Abenteuer verspricht. Ja, »Papa« überlebt sogar zwei Flugzeugabstürze.
Hemingway und die mediale Dauerpräsenz
Kurzum: Dank seiner Biografie erlangt Ernest Hemingway eine mediale Dauerpräsenz in einem Aufmerksamkeitsmarkt, der noch lange nicht so ausgefüllt ist, wie heute. Seine Geschichten rücken dabei fast zwangsläufig in den Hintergrund. So gerät in Vergessenheit, dass Hemingways Figuren sich vom öffentlichen Ich ihres Schöpfers maßgeblich unterscheiden.
Jake Barnes etwa ist der Protagonist von »The Sun Also Rises« (»Fiesta«). Ein verletzter und zugleich verletzlicher Mann, dem mit Lady Brett Ashley eine starke, fortschrittliche Frauenfigur gegenübersteht. Frederic Henry, der sich am Lago Maggiore von seinen Kriegsverletzungen erholt, ist ein großer Idealist. Doch zugleich ist er schwach und dabei hemmungslos romantisch.
Hemingway am Lago Maggiore: Ein Paradies in Technicolor
Große Gefühle und schwelgerische Worte drängen sich beim Anblick des Lago Maggiore bis heute auf. Ich stelle mir vor, wie das vor 100 Jahren gewesen sein muss. Fast ohne Autos, ohne Scooter, ohne Reisebusse, Mobiltelefone, Markenkleidung und ohne weitere Geißeln der Zivilisation, die der Massentourismus unserer Zeit an den See gespült hat.
Ein See, dessen Farben so unwirklich aussehen, als seien sie nachträglich choloriert. Ein Gewässer, an dessen Ufern eine verschwenderisch üppige Vegetation wuchert und aus dem drei perfekte Inseln herausragen, welche die pastorale Landschaft Norditaliens auf engem Raum in verdichteter Form nachstellen. Ein Paradies auf Erden, dessen Vorzüge und glorreiche Vergangenheit in einzelnen Bildern fortlebt, sei es in Technocolor oder in Schwarzweiß, das die Menschen ansonsten aber hemmungslos dem Ausverkauf freigegeben zu haben scheinen – wäre da nicht das Grand Hotel des Iles Borromées.
Die Hemingway Bar im Grand Hotel des Iles Borromées
Hinter dem feierlichen Entree zu dem aristokratischen Palast verbirgt sich ein Vestibül, das überraschend frei zugänglich ist. Kandelaber, mit Gold beschlagener Stuck und meterhohe Pflanzen flankieren den Weg in die winzige Hemingway-Bar, die sich auf der rechten Seite des Eingangs im Erdgeschoss befindet.
Auf dem Terrazzo-Boden vor dem geschwungenen Tresen warten lediglich vier Barhocker darauf, von trinkfreudigen Besuchern vereinnahmt zu werden. Etwas abseits stehen noch einige Stühle, Tische sowie ein kleines Sofa bereit.
Visionen von Gimlet-Trinkern
An diesem Tag öffnet die Hemingway-Bar im Grand Hotel des Iles Borromées erst um 18 Uhr. Eine leichte Enttäuschung kann ich nicht verbergen, obwohl ich nicht weiß, was ich mir davon erhofft hätte, wenn drei der vier Barhocker besetzt gewesen wären. Die Gesellschaft von Gimlet-Trinkern in gutsitzenden Anzügen vielleicht, oder jemand, mit dem oder der ich mir eine kleine Zitate-Schlacht liefern könnte. Auch ernst zu nehmende Einschätzungen, ob es überhaupt möglich ist, mit dem Boot über Nacht bis in die Schweiz zu rudern, interessieren mich.
Da die Bar geschlossen ist, begnüge ich mich mit ein paar Erkenntnissen. So traumatisch Hemingways körperliche Verletzung und sein seelischer Schmerz gewesen sind, so tröstlich und inspirierend hat der Lago Maggiore auf ihn gewirkt. An ausgesuchten Tagen und an bestimmten Orten ist der Zauber noch immer da.
Weitere Informationen zu Hemingway und dem Lago Maggiore
In späteren Jahren hat Hemingway bei seinen Besuchen in Stresa eine Suite bewohnt, die heute nach ihm benannt ist. Die 150 Quadratmeter große Wohneinheit ist nach dem Schriftsteller benannt. Wer es dafür übrig hat, konnte sie zuletzt in der Nebensaison »ab« 6100 Euro buchen. Die regulären Zimmer kommen auf mindestens 400 Euro. Für alle weiteren Informationen zum See wirfst du am besten einen Blick auf die Webseite des Tourismusbüros.
Text und Bilder: Ralf Johnen, Dezember 2022. Die Zitate in den Bildunterschriften stammen aus der Originalausgabe von »A Farewell to Arms«. Der Autor war auf Einladung des Tourismusbüros der Region Lago Maggiore vor Ort. Allerdings stand dabei eine völlig andere Geschichte im Vordergrund. In Stresa hat er zuletzt bei erbarmungsloser Hitze nach den Spuren von Hemingway am Lago Maggiore gesucht.
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