In Paris geht es gar nicht um die Franzosen. Zu dieser Einsicht bin ich gekommen, als ich im Alter von ungefähr 18 Jahren zum ersten Mal „The Sun Also Rises“ gelesen habe. Vielleicht habe ich mich bei meiner Interpretation ein wenig zu sehr vom deutschen Titel verleiten lassen, möglicherweise aber waren meine Erkenntnisse auch der Jugend geschuldet. Fest steht jedenfalls, dass mir Ernest Hemingways „Fiesta“ vorkam wie eine nie endende Party, deren schreibende, reisende und trinkende Protagonisten mir als Vorstadtkind seinerzeit enorm glamourös vorkamen.
Wenn ich mit der Linie 7 von Zündorf nach Köln fuhr, um mir das Konzert mal wieder irgendeiner Australo-Pop- oder Industrial-Band anzusehen, habe ich heimlich die Anzahl der Weinflaschen nachgezählt, die Erzähler Jake Barnes und die endcoole Lady Brett Ashley an ihrem letzten Abend gemeinsam geleert haben: fünf! Und ich habe mir geschworen, dass ich eines Tages an der Fiesta San Firmin in Pamplona teilnehmen würde, wo es die amerikanischen Expats eine Woche lang exzessiv haben krachen lassen. Schließlich war unser veganes Prohibitionszeitalter, wie ein Modedesigner unlängst die Gegenwart titulierte, damals noch in weiter Ferne. Und am Lago Maggiore steckte der Tourismus noch in den Kinderschuhen.
In Wahrheit allerdings, musste ich feststellen, als ich Hemingways Debütroman Jahre später ein zweites Mal auf mich habe einwirken lassen, haben sich die Amis in dem Roman auf recht subtile Weise gegenseitig gedemütigt. Der Stierkampf war plötzlich nur mehr eine Metapher für die Machtspiele zwischen den rivalisierenden Männern im Kampf um eine der ersten emanzipierten Frauen. Ob Amateurboxer, Jungliterat, Kriegsverwundeter oder bankrotter Adliger: alle wollten die Gunst und die Gegenwart der trinkfesten Brett.
Nur Jake Barnes, der ebenso hedonistische wie scharfzüngige Erzähler, konnte sich der Dame jedoch sicher sein. Er, der Reporter, hatte sich im Krieg eine „Verletzung“ zugezogen. Ein Missgeschick, das nie explizit benannt wird, das aber, so viel steht fest, eine dauerhaft platonische Beziehung zur Folge hat. Und Hemingway sollte also ein Macho sein? Das zumindest behaupteten ja die Professoren und die Feuilletons.
Irgendwann, ich hatte das Buch inzwischen noch viele weitere Male mit variierendem Erkenntnisgewinn gelesen, verschwanden Paris und die Heroen der 20er Jahre komplett von meinem Radar. Hemingway, Fitzgerald und der durchgeknallte Ezra Pound konnten mir gestohlen bleiben. Andere Orte schienen mir extrem viel reizvoller, als mit Hemingway in Paris zu sein – und die Romane der Gegenwart wollten ja auch mal gelesen werden. Und in Paris gab es ja schließlich auch noch andere tolle Dinge. Den Louvre etwa, wo man nicht einmal mehr an der Kasse Schlange stehen mussen, denn Tickets kann man auch bei Spezialisten im Netz kaufen.
Gut, nicht ganz zufällig bin ich zwischenzeitlich in Bayonne gewesen und im kleinen spanischen Bergdorf Burguete. Für Barnes eher unwichtige Stationen auf der vergeblichen Suche nach dem tieferen Sinn des Lebens. Später habe ich San Sebastian geliebt – und in Madrid habe ich über den Aufkleber geschmunzelt, der sich über den globalen Personenkult lustig macht: „Hemingway never ate here“. Doch am Boulevard de Montparnasse bin ich nie wieder gewesen.
Endlich wieder mit Hemingway in Paris
Als sich kürzlich angebahnt hat, dass ich aus einem speziellen Anlass doch mal wieder nachParis kommen würde (es ist doch so nah von Köln! Das Fliegen zu weiter entfernten Orten ist doch so fürchterlich geworden!), hat es auf einmal wieder gekribbelt. Ich musste sehen, was übrig geblieben ist von diesen Vorläufern der Existenzialisten, von den feierwütigen Lebenskünstlern und ihren bevorzugten Aufenthaltsorten.
Auf der Hinfahrt im Thalys habe ich mir also das Buch wieder geschnappt. In der schönen Ausgabe von Scribner aus New York, mit Lady Brett Ashley (kurze Haare!) auf dem Cover. Die Kriege, das wusste ich schon vorher, würden heute anderer Art sein. Schließlich ist seit Januar jeder Charly – und an den Ufern der Seine stehen die Zeltstädte afrikanischer Flüchtlinge ohne Asylantrag.
Vom Hotel ist es nicht weit bis zum Cimetière de Montparnasse und den Katakomben. Und von dort, das weiß ich noch aus den 90ern, ist die Metrostation Vavin nur ein Katzensprung. Der Weg führt über den vergleichsweise amorphen Boulevard Raspail, den Jake Barnes gehasst hat, aber nur wenn er im Taxi gekommen ist, um an der Kreuzung mit dem Boulevard Montparnasse auszusteigen.
Hier befand sich das Bermudadreieck der Expats. Das „Rotonde“ galt schon damals als Touristenfalle – und das ist bis heute so geblieben. Direkt daneben das „Le Select“, so etwas wie das Epizentrum aller Ereignisse in „The Sun Also Rises“. Als wir uns niederlassen, werden wir von fein livrierten Kellnern bedient. Zwei halbe Liter Pilsener Urquell kosten 21,60 Euro. Gratis sind die leckeren Mixed Pickles und das WiFi – womit die Frage geklärt wäre, ob es in Frankreich schon Internet gibt.
So richtig fließen will das Bier aufgrund der galoppierenden Inflation an diesem Abend nicht. Doch die Plätze direkt am Trottoir (wie man übrigens auch bei uns in Köln sagt) eignen sich durchaus, um einen kleinen Überblick zu bekommen, wie Paris heute funktioniert. Man mag es schick und gediegen. Immer noch. Vor allem gegenüber im „Dome“, das zu Hemingways Zeiten noch als undergroundig galt. Unabhängig davon kann ich mir vorstellen, dass es damals Spaß gemacht haben muss, hier als Valutaschwein Pernod trinkend über konkurrierende Intellektuelle und ihre schwächelndes Tennisspiel zu lästern.
Das schräg gegenüber ebenfalls auf der anderen Straßenseite gelegene „La Coupole“ wird renoviert. Es bleibt nur ein verhuschter Blick durch die offene Tür unter die Kuppel. Schade. Später spazieren wir durch den Jardin du Luxembourg. Trotz sommerlicher Wärme ist es leer hier. Die Leute trinken Wein und essen Baguette – „Pop-up-Franzosen“, wie es meine Begleiterin ausdrückt. Die Mehrheit der Parkbesucher schafft es sogar miteinander zu reden, anstatt auf die Smartphones zu gaffen.
Am nächsten Tag sind wir am Montmartre. Jake Barnes hat sich hier einst in verrauchten Clubs herumgetrieben, wo Akkordeonspieler den Valse Musette kultivierten. Darum beneide ich ihn, denn diese Tradition pflegen heute allenfalls zahnlose Straßenmusiker. Trotzdem bin ich angenehm überrascht, dass sich ganz in der Nähe in der Rue des Martyres und in der Rue des Trois Frères eine kleine Exklave mit hippen Geschäften etabliert hat.
Überhaupt staune ich, dass sich Paris keineswegs als die bräsige Mega-City herausstellt, als die ich sie eingeschätzt hätte: Das Leihfahrradsystem Velib prosperiert, es verkehren viele Elektro-Busse, der Stadtstrand an der Seine ist kostenlos zugänglich, das Viertel Belleville im Nordosten ist regelrecht „funky“ – und die Leute sind durch die Bank freundlich, manche sind sogar herzlich.
Highlight der Visite ist dann aber doch eine Geschichte, wie sie auch Hemingway, Barnes und Konsorten hätten erleben können: Ein Mittagessen in der „Closerie des Lilas“ am Boulevard de Montparnasse. Doch davon erzähle ich ein andermal – denn hier geht es mal nicht um Expats, sondern um Franzosen. Genauer gesagt: Ihre Kochkunst.
Ralf Johnen war im Juli 2015 mit Hemingway in Paris. Alle Bilder und Texte sind von ihm – außer natürlich den Bildunterschriften, die aus „The Sun Also Rises“ stammen.
Wenn immer sich die Möglichkeit ergibt, wandelt der Autor auf den Spuren Ernest Hemingways – zuletzt auf Key West.
Der Autor war privat mit Hemingway in Paris. Die Firma Thalys jedoch hat unsere Anreise mit dem Zug unterstützt. Auch davon erzähle ich ein andermal. Spätestens dann, wenn ich mal wieder frustriert aus einem Flugzeug aussteige. Klicke hier, wenn du meine Geschichte über die Highlights von Nantes lesen möchtest.
4 Comments
Mir gefallen auch die SW-Aufnahmen besonders gut. Bei manchen muß man einfach zweimal hingucken, da man sich fragt „Sind die echt aus 2015“? Wunderbar. Trotz Touristenrummel, Paris strahlt noch immer etwas Besonderes aus.
Yip, Sabine. Paris macht immer noch Spaß. Das Velo-System ist toll. Und in gute Restaurants muss man mittags gehen. Dann kann man die Sehenswürdigkeiten abhaken, während die Massen zu Abend essen.
Wunderschöne Schwarzweißaufnahmen! Paris ist, wie NYC und Chicago, einfach eine SW-Stadt. Wir waren vor zwei Jahren auf Hemingway’s Spuren in Paris unterwegs. Mein Mann (Amerikaner) zitierte dabei auswendig aus „A moveable feast“.
Cornelia, Danke für die netten Worte. Klingt nach guter Gesellschaft, die Du da in Paris hattest… Und den Schwarzweißaufnahmen werden wir treu bleiben. Versprochen!