Jeder Quadratmeter hat in den Niederlanden eine fest geschriebene Funktion. Die Zivilisation scheint mit wenigen Ausnahmen wie Vlieland stets in greifbarer Nähe. Ein besonders schöner Flecken ursprünglicher Natur ist der Nationalpark Weerribben-Wieden, ein perfektes Revier für eine Kanutour.
Diese These schien mir lange Zeit unumstößlich. Vor ein paar Wochen aber musste ich meinen Irrtum anerkennen. Anlass war mein Besuch im Nationalpark Weerribben-Wieden, dessen Existenz mir seltsam unbewusst war, obwohl ich schon mal vor Ort war. Allerdings ist mir der etwas sperrige Name nicht in Erinnerung geblieben, als ich in Giethoorn in der Provinz Overijssel an Bord eines Flüsterboots über die Kanäle gefahren bin und in Blokzijl über die irritierende Transformationen eines ehemaligen Küstenortes zu einem Binnenhafen gestaunt habe.
Diesmal nun ist der Anlass der Reise ein anderer. Ich möchte gemeinsam mit ein paar Leuten einem Superlativ auf den Grund gehen: der Nationalpark Weerribben-Wieden ist das größte zusammenhängende Sumpfgebiet Westeuropas. Er breitet sich zwischen der hübschen Hansestadt Zwolle und der Eislaufhochburg Heerenveen in der Provinz Overijssel aus. Und er soll einer der ruhigsten Orte der Niederlande sein.
Am frühen Nachmittag erreichen wir das kleine Dorf Ossenzijl, an dessen Rande wir uns im Recreatiecentrum De Kluft ein Kanu mieten. Zwei Guides paddeln in ihren eigenen Booten mit uns mit, um uns die Gewässer zu zeigen. Wir lauschen ihren Anweisungen: »Wenden, vorauspaddeln, dann per Ziehschlag um die Kurve.« Bald aber hören wir nur noch das Geräusch unserer Paddel, die etwas zu übermütig ins Wasser eintauchen.
Paddeln zwischen Riet und Torf
Nach zehn Minuten bricht Guide Ari das Schweigen. »Schön ruhig hier, oder«, sagt er lachend. In bedächtigem Tempo gleiten wir an hübschen Häusern mit rietgedeckten Dächern vorbei, die über ziemlich große Gärten und natürlich über eigene Bootsanleger mit Schwimmtreppen verfügen.
»So ist es fast immer hier«, lässt Ari wissen. Er meint die Geräuschkulisse, die sich aus dem Plätschern des Wassers, dem Paddelschlag und dem Wind zusammensetzt. »Eine Straße gibt es hier nicht. Wer hier wohnt, muss alles mit dem Boot heranschaffen.«
Wir lernen, dass der Nationalpark seine Existenz dem Torfabbau verdankt. Schon seit dem 13. Jh. haben die Menschen den Brennstoff hier abgebaut, um die damals noch viel härteren Winter erträglich zu machen. Ab dem 17. Jh. wurde der Rohstoff in größerem Maße exportiert und über den Hafen von Blokzijl und die Zuiderzee vor allem in die wachsenden Städte im Westen des Landes verschifft.
Weerribben-Wieden: 105 Quadratkilometer Sumpfgebiet
Bis zum Ende des Torfabbaus in den 1950er Jahren sind in dem tief gelegenen Land erhebliche Aushebungen zustande gekommen, die das Wasser dankbar ausgefüllt hat. Weil aber in den ebenso kleinen wie auf Effizienz ausgelegten Niederlanden keine noch so unwirtliche Fläche ungenutzt bleiben kann, haben sich die Bewohner der Region die Frage gestellt, wie trotz dramatisch veränderter Bedingungen Kapital aus ihrem Grund schlagen konnten. Seitdem sind viele der 105 Quadratkilometer dem Anbau von Riet vorbehalten.
Das Rascheln dieser Pflanzen begleitet unsere ganze Fahrt. An den Ufern sehen wir jetzt bunte Hütten, die an Touristen vermietet werden. Skandinavien light. Oder doch eher Kanada? Wir beschließen sofort, uns beim nächsten Mal in eine solche Lodge einzuquartieren. »Macht das«, sagt Ari. »Ihr könnt dann ganz früh aufstehen, mit dem ersten Licht ins Kanu steigen und sehen wie der Nebel aus dem Wasser aufsteigt.«
Bis nach Giethoorn ist es nicht weit
Ente oder Eisvogel?
Unsere Strecke ähnelt nun immer mehr einem Labyrinth, dessen Ufer von großen Kolonien prächtiger Sumpfschwertlilien flankiert werden. Auf dem glasklaren Wasser gesellen sich Seerosen hinzu. Es herrscht vollkommene Stille, die nur gelegentlich durch den gelangweilten Ausruf eines Kuckucks gebrochen wird. Tagelang, sagt Ari, könne er hier umherpaddeln, ohne dass er von der Außenwelt behelligt werde. Manchmal erspähe er einen Eisvogel, gelegentlich auch einen Otter, der im Wasser herumtollt. Es sei ein ursprüngliches Leben mit vollendeter Ruhe, das die Rückkehr in die Zivilisation ganz schön schwer mache.
Bedrohung durch Flughafen
Allerdings, sagt Ari, sei die makellose Stille in Weeribben-Wieden bedroht. Zwar sichert der Status als Nationalpark den Erhalt des Refugiums als solches. Dennoch aber rückt die Zivilisation näher an das wunderbare Naturschutzgebiet heran: So wurde ganz in der Nähe der Flugplatz von Lelystad zu einem Verkehrsflughafen umgebaut, der den Amsterdamer Flughafen Schiphol entlasten soll. Durch die Lage in der Einflugschneise wäre es mit der himmlischen Ruhe in Weeribben-Wieden dann wohl vorbei.
Ursprünglich sollte die Eröffnung schon 2019 stattfinden. Doch obwohl das Terminal bezugsfertig ist, wurde der Startschuss mehrmals verschoben. Anwohnerproteste aus den Provinzen Flevoland und Overijssel sowie ein geändertes Bewusstsein für Klima- und Naturschutz könnten die Pläne durchkreuzen. So ist es zurzeit fraglich, ob der Flughafen je in Betrieb gehen wird.
Eine Nachricht, die Ari und seine Kollegen sehr freut. So haben wir die Hoffnung, dass wir auch in Zukunft ungestört zu Kanutouren in diesem Kleinod aufbrechen und uns in diesem herrlichen Stück Holland verlieren können.
Informationen über den Nationalpark Weeribben-Wieden
Viele Tipps zur niederländischen Küste gibt es im Buch »99 x Niederländische Küste wie Sie sie noch nicht kennen«, das ich gemeinsam mit Alexandra Johnen geschrieben habe.
Der Nationalpark Weerribben-Wieben befindet sich in der Provinz Overrijssel und ist mit dem Auto ab Köln in knapp drei Stunden erreichbar. Wer lieber mit der Bahn fährt, kann über Arnhem und Zwolle bis zum Bahnhof Meppel fahren.
Der Eintritt in den Nationalpark Weerribben-Wieden ist kostenlos. Das Besucherzentrum Bezoekerscentrum De Wieden/St. Jansklooster ist täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet (Nov. bis März 12–17 Uhr).
Boote für eine Kanutour durch den Nationalpark Weerribben-Wieden vermietet das Kanoparadijs. In Zusammenarbeit mit dem Recreatiecentrum De Kluft kann das Personal auch ganze Pakete für einen Aufenthalt schnüren. Ein Kanu für zwei Personen kostet ab 22 Euro pro Tag. Derselbe Anbieter vermietet auch Unterkünfte. Die Lodges für vier oder sechs Personen können für 3, 4 oder 7 Tage angemietet werden, der Preis liegt in der Hochsaison zwischen 395 und 575 Euro.
Im Nationalpark Weeribben-Wieden sind verschiedene Kanurouten ausgeschildert. Ein Trip in die Region kann wunderbar mit Ausflügen nach Giethoorn und Blokzijl an der Grenze zu Flevoland verbunden werden. Vom Tagesausflug bis zum Wochentrip ist somit alles möglich.
Text und Bilder: Ralf Johnen, Juli 2019. Der Autor war auf Einladung des Niederländischen Büros für Tourismus und Convention unterwegs.
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Schöner Blog. Sehr informativ.