Florida? Das ist doch dieses kulturlose Rentnerparadies, wo man auf dem Weg zu einem überteuerten Vergnügungspark ständig im Stau endet. An dieses Vorurteil muss ich zurückdenken, als ich bei den Recherchen für dieses Buch in einem kleinen, aber durchaus auffälligen Auto durch Palm Beach fahre.
Wir haben uns einen Gimlet im Hotel The Breakers gegönnt, einem dieser neomediterranen Paläste aus der euphorischen Gründerzeit Floridas, wo jederzeit die Charaktere aus der Serie „Mad Men“ an der Bar sitzen könnten.
Als wir zurück in Richtung Hotel fahren, ist es dunkel, aber noch früh am Abend. Dann stehen wir tatsächlich im Stau. Als ich die Ursache erkenne, werde ich nervös: Ein Streifenwagen, dessen Personal hektisch mit den Armen rudert. Das ist wohl kein gutes Zeichen in den USA. Vor mir werden alle Wagen von der Straße in eine Einfahrt gelotst. „Jetzt haben sie dich“, denke ich nur.
Nach einer Rechtskurve aber weicht die von Jetlag beflügelte Paranoia der Realität: Ich werde mir langsam der Tatsache gewahr, dass wir uns auf einem dieser Milliardärsanwesen befinden, die wir zuvor im gleißenden Sonnenlicht aus dem Auto beäugt hatten. Das hier muss eine der berüchtigten Wohltätigkeitsveranstaltungen sein, die man als Tycoon an Freitagabenden halt so organisiert.
Und für uns gibt es kein Zurück: Ein livrierter Dienstbote reißt mit sichtbarer Geringschätzung die Tür unseres Kleinwagens auf, um mir eine Marke in die Hand zu drücken, mit der ich das Gefährt am Ende des Abends wieder auslösen kann. Mit einer Kladde in der Hand fragt er mich nach einer Banalität. „Your name, Sir?“
Ich stammele, dass es sich hier offensichtlich um ein Missverständnis handele und ich nur ein harmloser Tourist aus Europa sei. Warum ich dann nicht einfach weitergefahren sei, möchte der Typ wissen. Eine berechtigte Frage. „Wahrscheinlich“, sage ich kleinlaut, „bin ich einfach überfordert mit den Gepflogenheiten Ihrer schönen Stadt“.
Sein Wissensdurst ist abrupt gestillt. Mit ein paar abfälligen Handbewegungen dirigiert er mich zum Hinterausgang. Soll ich doch sehen, wo ich bleibe. Später in dieser tropischen Nacht denke ich lachend an die Situation zurück: So etwas kann dir auch nur in Florida passieren.
Monster und Manatees im Merian Momente Florida
So ein Vorfall hinterlässt seine Spuren. Daher will ich meinen Augen ein paar Tage darauf zunächst keinen Glauben schenken. Doch nach einer kurzen Inspektion steht fest: Es hat tatsächlich gefroren in der Januarnacht vor unserem Besuch in Wakulla Springs.
Bibbernd kratze ich die Scheiben frei. Gegen 9 Uhr stehen wir im Besucherzentrum des State Parks und blicken auf ein Filmplakat. Wir sehen ein Monster, das mir in meiner Kindheit üble Träume beschert hat: „Der Schrecken des Amazonas“.
Der Trash-Klassiker wurde nicht in Brasilien gedreht, sondern hier, im Norden Floridas. Mein mulmiges Gefühl weicht erst, als ich wenig später zum ersten Mal in meinem Leben Manatees sehe, die immer so gutmütig dreinblickenden Rundschwanzseekühe, deren Anblick alleine einen Trip in den Sunshine State wert ist.
So wie im Übrigen auch die Küstenlandschaft, die nur ein paar Kilometer weiter ihren Lauf nimmt. „Forgotten Coast“ nennen die Einheimischen diesen Teil des Sunshine State. Hier unterhalten sich die Menschen in einer fremdartigen Sprache, die rudimentär an Englisch erinnert. Für Merian Momente Florida habe ich sie versucht zu dechiffrieren.
Die Ketten und Konzerne, die Amerika sonst beherrschen, sucht man vergebens. Zum Mittag kommen Austern aus dem Golf und kühles Bier auf den Tisch. Und die Strände auf den Barriereinseln sind von unverschämter Schönheit.
Kenner sagen: Je weiter man in Floridas Norden vordringt, umso besser lernt man den wahren Süden der USA kennen. Und der ist träge, altmodisch – und entsetzlich charmant.
Meilensteine auf dem Weg zur Metropole
Miami indes kann mit Betulichkeit nicht viel anfangen. Die Stadt ist heute rastloser denn je. Rundum die City ragen immer neue Wolkenkratzer in den Himmel.
Von Frank O. Gehry über Cesar Pelli bis zu Herzog & de Meuron dürfen hier die renommiertesten (und teuersten) Architekten der Welt ihre Visionen verwirklichen. Und South Beach, das gerade das erste, an Turbulenzen reiche Jahrhundert seiner Existenz vollendet hat, strahlt schöner und heller als je zuvor.
Die Stadt, so viel ist offensichtlich, ist immer noch jung. Dennoch beansprucht Miami im 21. Jh. eine Führungsrolle. Offiziell beschränkt sich die Zahl der Einwohner auf nur 420 000.
Der Großraum aber zählt rund sechs Mio. Menschen. Genug für den Status einer veritablen Metropole – und vielleicht auch zur Rechtfertigung jenes inoffiziellen Titels, den sich Miami schon jetzt verliehen hat: Die „Hauptstadt beider Amerikas“, wo Nord- und Lateinamerikaner zusammenfinden. Für eine leuchtende Zukunft.
Diese Ambitionen Miamis waren mir auch vor meinem jüngsten Besuch nicht fremd. Wohl aber habe ich nicht schlecht gestaunt, als mir beim Frühstück ein ortsansässiger Argentinier vom jüngsten Hype berichtet hat: Wynwood. Für MERIAN momente Florida habe ich den Stadtteil ausgiebig erkundet.
Hier haben sich bis vor wenigen Jahren kaum Einheimische und schon gar keine Touristen hin getraut. Nun aber habe er South Beach verlassen, um fortan dort zu leben. Weil sich in den Lagerhallen auf der anderen Seite der Biscayne Bay mehr als 70 Galerien niedergelassen haben und weil Street Art und Subkultur ein weniger oberflächliches Lebensgefühl zulassen. In Wynwood fühlt sich Miami ein wenig wie Berlin.
Karibische Küche und kubanische Kultur
Aber das ist nur eine von vielen Entwicklungen: So ist in Downtown mit dem Perez Art Museum ein Ausstellungshaus entstanden, in dem kühne Gegenwartskunst gezeigt wird. Und nur ein paar Blocks weiter entzückt Little Havana mit ungekünstelter Lebensfreude. Florida aber müht sich nicht nur erfolgreich, das Leben mit mehr Kultur zu füllen.
Auch in kulinarischer Hinsicht zahlt sich der immer neue Ehrgeiz aus. Die bisweilen ideenlose amerikanische Küche geht nunmehr bei hoher Produktqualität immer häufiger eine Allianz mit den frischen und würzigen Gerichten aus Lateinamerika und der Karibik ein.
Sogar beim Bier können Feinschmecker aus Zentraleuropa inzwischen nur anerkennend Beifall spenden: Gegen die Handwerkskunst und Experimentierfreude der Mikrobrauerei wirkt das heimische Pils schnell ideenlos. Meine Favoriten sind die herben und heftig gehopften IPAs (India Pale Ales).
All diese Entwicklungen machen einen Urlaub in Florida zu einer Entdeckungsreise. Gleichzeitig ändern sie nichts daran, dass meine persönlichen Lieblingsflecken Orte der Stagnation sind: Die 171 State Parks, die sich in allen Teilen des Sunshine State befinden, sind großartig. Hier ist Florida noch so, wie es vor 150 Jahren war. Unberührt, fragil, ein klein wenig unkalkulierbar und von erhabener Schönheit.
Zweifellos ist es machbar, Florida von einer festen Ausgangsbasis aus zu erleben. Wer aber den Sunshine State verstehen und in seiner ganzen Pracht erleben möchte, sollte eine klassisch amerikanische Reiseform in Erwägung ziehen: den Roadtrip.
Hin zu den breiten Stränden im Nordosten und zu den verschlafenen Dörfern im Panhandle, hinein in das Paralleluniversum der Vergnügungsparks Orlandos, über den Overseas Highway bis nach Key West, auf zu den wunderbaren Inseln an der Golfküste und schließlich ins pulsierende Miami. Wer all dies auf sich einwirken lässt, wird nie wieder behaupten, Florida sei ein kulturloses Rentnerparadies.
Text & Bilder: Ralf Johnen, Oktober 2015. Der Text entspricht weitgehend dem Vorwort des gerade erschienenen Reiseführers MERIAN momente Florida.
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