Bei einer Fahrradtour durch Rotterdam wird schnell deutlich: Die Metropole an der Maas ist anders, als der Rest der Niederlande. Die allgegenwärtige Aufbruchstimmung wirkt ansteckend.
Rotterdam ist die Liebe meiner Jugend. Meine Großmutter hat ganz in der Nähe gewohnt – und bei jeder Gelegenheit habe ich mich schon als eher kleiner Junge in den Zug gesetzt, um dorthin zu fahren. Nach 20 Minuten, die ich meist in einer dicken, grauen Tabakwolke verbracht habe, konnte ich aussteigen. Ich war da, in einer Stadt, die schon in den 80ern eine Skyline hatte.
Doch das war lange nicht alles. Rotterdam besaß einen Welthafen mit allem, was dazu gehörte: Containerschiffe, schummrige Spelunken und windige Gestalten, die an selbst gedrehten Zigaretten aus Van Nelle-Tabak sogen.
De Lijnbaan: Die älteste Fußgängerzone Europas
Außerdem gab es eine Eisenbahnbrücke, die an einem Stahlskelett befestigt war. Sie trägt den Namen De Hef und lässt sich über einen ausgeklügelten Mechanismus so weit anheben, dass auch Schiffe mit hoch aufgetürmter Fracht drunter her passten. Heute ist sie außer Betrieb, trotz aber provokativ mit angehobenen Gleisen den Jahren.
Nicht zuletzt rühmte sich Rotterdam der ersten Fußgängerzone Europas: De Lijnbaan Nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurde sie im Zuge des Wiederaufbaus mit einem sichtbaren Konzept angelegt: Die Lijnbaan führt mehr oder weniger direkt vom Bahnhof in die Stadt. Unbehelligt von motorisierten Fahrzeugen konnten die Leute flanieren, während auf der Rückseite der ebenso simplen wie modernistischen Bauten die Lieferwagen direkt bis an die Rampe fuhren.
Rotterdam ist rau und spannend
Trotz ihres Erfindungsreichtums war die Stadt rau und ein bisschen schmutzig. Auf dem Markt stapelten sich meterhoch die Türme aus Miesmuschelschalen. Verkäufer mit dunklen Fingernägeln versuchten Fisch an den Mann zu bringen. Ich habe sie neugierig beäugt, während ich mich durch Regale mit abgenutzten Schallplatten gearbeitet habe.
Rotterdam, so viel war klar, war völlig anders als der Rest des Landes, in dem ich früher nahezu all meine Ferien verbracht habe. Die Stadt war weder malerisch noch mittelalterlich. Es gab kaum schiefe Häuser. Rotterdam war nicht »gezellig«, also im holländischen Sinne gemütlich. Manchmal habe ich Junkies gesehen, die sich in Hauseingängen eine Spritze gesetzt haben. Und wenn ich mich nicht täusche, hat es hier auch häufiger gestürmt und geregnet als in Den Haag oder Amsterdam.
Trotzdem habe ich Rotterdam geliebt. Es gab jeden Tag etwas zu entdecken. Im Rückblick würde ich sagen: Es waren die vielseitigsten Facetten des Lebens, die ich bis dahin kennen gelernt habe.
Rückkehr für eine Fahrradtour durch Rotterdam
Irgendwann aber habe ich Rotterdam ein wenig aus den Augen verloren. Meine Oma ist alt geworden. Eines Tages war sie gar nicht mehr. Das Leben hatte sich verändert, wozu auch gehörte, dass andere Städte plötzlich wichtiger waren. Mit Genugtuung habe ich aus der Ferne beobachtet, wie die Fußballer von Feyenoord 2002 das UEFA-Cup-Finale gegen die Lüdenscheider gedreht haben.
Wenn ich doch mal in Rotterdam war, dann nur für ein oder zwei Tage und ohne besonderen Grund. Einfach ein bisschen in der eigenen Vergangenheit schwelgen, ein wenig von der Luft atmen, in der ich aufgewachsen bin.
Das konnte so nicht ewig weitergehen. Im Frühjahr habe ich mir die Zeit genommen, um mich ein paar Tage mit meiner Jugendliebe zu beschäftigen. Dabei stand als erstes eine Fahrradtour auf dem Programm.
Start am futuristischen neuen Bahnhof
Als ich Flip gegen 10 Uhr treffe, nieselt es ein wenig. Flip ist Architekt und ein echter Sohn dieser Stadt. An Wochenenden fährt er in Begleitung von Besuchern mit dem Fahrrad durch Rotterdam, von der er behauptet, dass sie auch heute noch eine Spielwiese ist für kreative Baumeister. Hier geht mehr als in anderen Städten. Und das, sagt Flip, war ist schon lange so: »Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wollten die Menschen hier die alten Häuser abreißen und durch neue ersetzen.«
Das jüngste Beispiel ist Centraal Station, der Bahnhof, an dem ich früher immer angekommen bin. Das aus Stahl und Glas gefertigte Empfangsgebäude aus dem Jahr 1957, das einst für seine Klarheit gerühmt wurde, ist vor Jahren dem Erdboden gleichgemacht worden – weil es zu klein geworden war.
An seiner Stelle steht nun ein veritables Terminal mit einer verchromten Fassade, das an seiner Südflanke steil in den Himmel ragt. Im Vordergrund steht die Funktionalität, denn das neue Centraal ist auf 320 000 Passagiere pro Tag im Jahr 2030 ausgelegt. Mehr Menschen werden heute auf keinem Flughafen der Welt abgefertigt.
Rotterdam sagt: »The future is now«
In Rotterdam gilt stets: »The future is now«. Doch ich sehe nicht ohne Rührung, dass die Architekten sich einen ungewohnt sentimentalen Kniefall vor dem alten Bahnhof gegönnt haben: Sowohl die Uhr als auch der Schriftzug sind dem Vorgänger nachempfunden. Beide werden an das Zeitalter vor den Hochgeschwindigkeitszügen erinnern.
Flip findet nicht, dass es sich um ein megalomanisches Bauwerk handelt. Schließlich ist es in Rotterdam nie um die Vergangenheit gegangen. Und eines Tages werden sich andere Städte wünschen, ebenso weitsichtig gewesen zu sein.
Während überraschend schnell die Sonne durchbricht, steigen wir wieder in den Sattel. In der City sehen wir sehen weitere Hochhäuser, deren Vorzüge sich nicht in jedem Fall erschließen. Beim Timmerhuis halten wir inne. Hier, in der belebten Straße »Meent«, wurde jüngst ein ganzer Häuserblock entkernt, umgebaut und schließlich mit einem Aufsatz wiedereröffnet.
Die Markthalle von Rotterdam: schon jetzt eine Ikone
Bald gelangen wir zum Markt, der sich dank der spektakulären Markthalle radikal gewandelt hat. Ich gönne mir einen „Hollandse Nieuwe“ – ein Matjesfilet, das ich ohne Rücksicht auf die Folgen am Schwanz packe und nicht ohne gehackte Zwiebeln konsumiere. Auch der Markt, so viel vorweg, wird für die Zukunft fit gemacht. Was hier in wenigen Wochen eröffnet wird, sieht definitiv mindestens nach dem Jahr 2030 aus.
Langsam nähern wir uns der Erasmusbrücke, deren schwanenhalsähnlicher Pylon seit 1996 zu den Wahrzeichen der »World Port City« gehört. Dieser Tage feiert die Stadt den 25. Jahrestag ihres Bestehens. Am anderen Ufer hat Rem Koolhaas seinen Beitrag zur Zukunft seiner Heimatstadt verewigt: »De Rotterdam«, ein Hochhaus, dessen leicht versetzte Türme an einen Container-Turm erinnern, der auf hoher See in Schieflage geraten ist.
Auf dem Weg zum »Kop van Zuid« in Rotterdam
Während der Fahrt entdecke ich die ehemalige Eisenbahnbrücke. Bald aber konzentriere ich mich auf »Kop van Zuid«, wie der Stadtteil am anderen Ufer der Neuen Maas heißt.
Hier reihen sich Wolkenkratzer und ehemalige Lagerhallen aneinander, bis am äußersten Ende der Landzunge mit dem ein Monument aus einer längst vergessenen Epoche um Aufmerksamkeit bittet: Das Hotel New York, wo einst die Auswanderer nach New York auf die Schiffe der Holland Amerika Lijn gewartet haben. Auch mein Onkel Rudi und seine Frau Jeanne befanden sich darunter.
Katendrecht und die SS Rotterdam
Im Hotel New York kann man heute wunderbar Seafood zu sich nehmen. Flip und mich aber zieht es nach Katendrecht. Der Stadtteil aus dem Robin van Persie stammt, war noch vor wenigen Jahren so verrucht, dass sich außer den Jacques Brels oder den Jean Genets dieser Welt kaum jemand hierhin getraut hat.
Vor rund fünf Jahren aber ist mit der SS Rotterdam ein Stück Geschichte heimgekehrt. Nachdem der einst so glamouröse Ozeanriese in Katendrecht seine letzte Ruhestätte gefunden hat, haben sich die Rotterdam endlich ermutigt gefühlt, eine Brücke über das Hafenbecken zu schlagen, das den Weg auf die Halbinsel früher so beschwerlich gemacht hat.
Wie Flip erzählt, floriert das Viertel seitdem. Erst kamen die Künstler, dann die Gastronomen und schließlich auch jene Städter, die Katendrecht als Nest von Kriminellen, Prostituierten und trinkfesten Seemännern abgespeichert hatten.
Der Matrose und das Mädchen
Heute ist es normal, in der Espressobar Posse abzuhängen oder Fisch zu essen in einem Restaurant mit dem koketten Namen De matroos en het meisje (der Matrose und das Mädchen).
Nachdem Flip sich in Richtung City verabschiedet hat (er muss noch fürs Wochenende einkaufen), kurve ich noch ein wenig mit dem Rad umher. Im hintersten Winkel meines Gedächtnisses meine ich mich nämlich zu erinnern, dass auch das robuste Rotterdam noch ein fragiles Stückchen Altholland beherbergt.
Das Finale der Fahrradtour durch Rotterdam: Delfshaven, ein altes Stück Holland
Ich fahre am Nordufer der Maas entlang, wo ich den mit Tulpen und Narzissen zugewucherten Stadtpark, den Euromast und das futuristische Lloyd-Kwartier passiere. Nach einer Viertelstunde bin ich davon überzeugt, dass ich mich entweder täusche, oder die Spuren der Vergangenheit ausgelöscht wurden. Schließlich wartet man hier auf niemanden. Die Zukunft ist jetzt – auch wenn ich mit dem Fahrrad durch Rotterdam fahre.
Als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben habe, entdecke ich ein Schilf mit der Aufschrift Delfshaven.
Und tatsächlich sehe ich bald ein schmales Hafenbecken: Es wird von einer Hängebrücke überspannt, an seinen Ufern erheben sich windschiefe Giebelhäuser – und während ich grade das Hupsignal eines Ozeanriesens höre, sehe ich gar eine Windmühle.
So also hat Rotterdam früher einmal ausgesehen, bevor die Stadt ihre großflächige Selbstmodernisierung nach dem Motto „Die Zukunft ist jetzt“ begonnen hat. Und lange bevor ich ihr sie entdeckt habe.
Informationen zur Fahrradtour durch Rotterdam
Rotterdam ist von Köln aus binnen drei Stunden mit dem Auto oder mit dem Zug erreichbar.
Als Unterkünfte empfehle ich den einstigen Ozeandampfer SS Rotterdam oder das citynahe Hotel Mainport.
Rotterdam ArchiGuides bietet rund zehn verschiedene Touren an – darunter auch die Fahrradtour durch Rotterdam.
Text und Bilder zur Geschichte über die Fahrradtour durch Rotterdam: Ralf Johnen, zuletzt aktualisiert im August 2021. Die Reise wurde von Rotterdam Marketing und dem Niederländischen Büro für Tourismus und Convention (NBTC) unterstützt.
2 Comments
Ich finde es herrlich in Rotterdam, Marianna. Es gibt immer etwas Neues zu sehen. Demnächst macht die Markthalle auf, die werde ich mir in zwei Wochen ansehen. Etwas in der Art gibt es bisher nirgendwo.
Ich will schon seit Ewigkeiten nach Rotterdam. Beim letzten Mal hab ich es sogar bin der Bahn passiert, mich aber dann für Den Haag entschieden.
Und außerdem fehlt mit Holland.