Ein Road Trip durch die holländischen Hansestädte ist eine bemerkenswerte Reise durch die Zeit. Überall zwischen Doesburg, Zutphen, Deventer, Zwolle und Kampen können Besucher Relikte des großen Handelsverbundes entdecken. Doch nicht nur aus diesem Grund lohnt sich der Trip.
Der wichtigste Raum des Rathauses? Das kann nur das Weinhaus gewesen sein, wo die Gastgeber die Hansekaufleute aus Deutschland bewirtet haben. Oder, wie Harry Vrielink es formuliert: „Mit Bier und Wein abgefüllt.“ Damit sie auch beim nächsten Mal wieder nach Zwolle kommen, um ihre Geschäfte zu machen. Und nicht ein paar Kilometer weiter flussaufwärts fahren. Nach Deventer etwa, oder nach Zutphen. Zwei Städte in den Niederlanden, die sich ebenfalls mit Bollwerken, Gräben und hohen Mauern vor ungebetenem Besuch zu schützen wussten. Und wo nicht minder geschäftstüchtige Händler lebten.
Vrielink ist ein Haudegen der alten Schule. 74 Jahre alt, von stattlicher Statur und nie um markige Worte verlegen: „Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, würde auf allen Ortsschildern »Hansestadt Zwolle« stehen“, bellt er. So wie es die langjährigen Partner in Hamburg oder Lübeck machen, Städte, die ihre Identität nicht verleugnen. „Auch wir waren schließlich dabei, als es zum ersten Mal so etwas wie eine europäische Handelsgemeinschaft gab.“
Diese Epoche wirtschaftlicher Blüte hat seine Stadt geprägt. Die heutige Hauptstadt der Provinz Overijssel mit ihren spätgotischen Prunkbauten, den Patrizierhäusern und den verwinkelten Sträßchen ähnelt immer noch der sternförmigen Festung von früher. Grund genug, die Historie wieder mehr in den Vordergrund zu rücken.
Die zweite Hansezeit
Die Insgesamt sieben holländischen Hansestädte reihen sich entlang der Ijssel aneinander. Auch Doesburg, Hasselt, Hattem und Kampen profitierten vom 14. bis zum 16. Jahrhundert vom Handel, der erheblichen Reichtum in diesen Teil der Niederlande gebracht hat.
Und nachdem die Epoche im Selbstbild der Städte lange kaum eine Rolle gespielt hat, ist die Begeisterung für die Zugehörigkeit zur Mutter aller Städteverbunde seit 1980 abermals entbrannt. Sehr zu Vrielinks Genugtuung wurde damals die „Neue Hanse“ ins Leben gerufen – in Zwolle.
Kaum jemand allerdings lebt und liebt den Mythos so wie der Mann mit dem grauen Kinnbart. Er ist eine Art Generalsekretär der örtlichen Sint-Michaels-Gilde, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Gepflogenheit der Vergangenheit zu kultivieren. Er selbst besitzt die Schlüssel zu vielen historischen Schauplätzen, wo er die Vorzüge der Hanse erklärt. Damals sagt er, haben sich die Partner bewusst zu gegenseitigem Wohlstand verholfen. Wenn es nötig war, Schutz geboten. Und man sei nicht vor neuen Ideen zurückgeschreckt.
Vrielink zieht es zur Sint Michaelskerk. Das Gotteshaus ist zu Recht als „Grote Kerk“ bekannt, schließlich besaß es einst den mit 125 Metern höchsten Kirchturm des Landes. Damit die auf dem Ijsselmeer verkehrenden Schiffer sehen konnten: Aha, zehn Kilometer flussaufwärts, da leben auch Leute. Und zwar solche, die sich einen außergewöhnlich hohen Turm leisten können. Mehrere Blitzeinschläge allerdings brachten das Wahrzeichen 1665 zum Einsturz.
Die holländischen Hansestädte waren im Ausstausch mit Norwegen
40 Kilometer südlich von Zwolle befindet sich Deventer. Im Gegensatz zu ihrem Nachbarn besitzt die Stadt einen Vorteil: Sie schmiegt sich direkt an die stark mäandernden Ijssel an. Mit gebührendem Respekt, denn das vom mächtigen Rhein gespeiste Gewässer gilt als launisch, weshalb die Ufermauern fast zehn Meter hoch sind.
Auch in Deventer sind zahlreiche Relikte aus der Hansezeit sichtbar. In der Rijkmanstraat haben die so genannten Bergen-Fahrer gewohnt, jene Kaufleute, die aus der norwegischen Hafenstadt Stockfisch importiert haben. Anders als die Rivalen in Zwolle, deren Reichtum vor allem auf dem Handel mit Sandstein aus dem nahen Bad Bentheim basierte, haben die ortsansässigen Händler die anderen Hansestädte ihrerseits mit Naturalien beliefert: dem „Deventer koek“, einem Gewürzkuchen mit geheimer Rezeptur, auf den die Stadt bis heute stolz ist.
Bis zu 700.000 Exemplare jährlich haben die seinerzeit 13 lizenzierten Bäcker auf dem Höhepunkt der Hanse ausgeschifft. Hortance van den Beld weiß vieles über diesen Kuchen, der heute synonym ist mit dem Betrieb J.B. Bussink. Ihre eigenen Eltern besitzen die größte Sammlung authentischer Holzbackformen der Niederlande.
Diese sind Kernbestandteil des familieneigenen Hansemuseums, das sich zu einer mittleren Attraktion gemausert hat. Im Seitentrakt einer ehemaligen Bäckerei sind zudem antike Schilder, Kaffeemühlen und andere Gebrauchsgegenstände zu sehen. Überbleibsel aus einem Holland, das an so vielen Orten einem hoch industrialisiertem Land gewichen ist.
Weihnachtliches Dickens-Fest
Besonders nostalgieträchtig ist Deventer im „Bergkwartier“, das seinen Namen einer kaum wahrnehmbaren Anhöhe verdankt. Hier, im Süden der ehemaligen Festungsstadt, hat van den Beld als Kind gewohnt. „Damals hat mir meine Mutter verboten, durch die Walstraat zu laufen. Das galt als unsicher.“ Heute gehört die Straße zu den teuersten der Stadt. Sie beherbergt Antiquitätengeschäfte und Bed and Breakfasts. Die Häuser sind proper herausgeputzt, Fenster und Türen werden von Rosenstöcken flankiert. Es herrscht eine mittelalterliche Romantik.
Da ist es nur konsequent, dass Autos verboten sind. Die Szenerie mutet fast wie ein Potemkinsches Dorf an. Das kulissenartige Antlitz des Straßenzuges müssen auch die Organisatoren eines Events erkannt haben, dessen Realisierung in den Niederlanden eher unwahrscheinlich war: Tatsächlich aber findet in der Walstraat und Umgebung seit 1991 ein Festival zu Ehren von Charles Dickens statt.
Inspiriert durch die „Weihnachtsgeschichte“ des Autors, verkleiden sich am letzten Wochenende vor Weihnachten hunderte Personen als Figuren der viktorianischen Romane. Ein Ereignis, das sich mehr als 150.000 Besucher ansehen.
Doch zurück nach Zwolle. Im Lokal „Het Beugeltje“, das sich am einstigen Stadtgraben befindet, nippt Harry Vrielink mittlerweile zufrieden an einem Bier. Direkt nebenan befindet sich „De Librije“, die ehemalige Bibliothek eines Dominikanerklosters aus dem 15. Jahrhundert. In den ehrwürdigen Gemäuern verwöhnen Jonnie und Thérèse Boer seit mittlerweile zwei Jahrzehnten ihre Gäste auf Dreisterneniveau. Die logische Fortsetzung einer uralten Tradition. Schließlich wollen auch die Spitzengastronomen unserer Zeit nichts anderes, als die Kaufleute der Hanse: Ihre Freunde sollen wiederkommen. Möglichst bald und möglichst zahlreich.
Informationen zu den holländischen Hansestädten
Übernachtung: Hotel Hanzestadslogement De Leeuw, Nieuwstraat 25, 7411 LG Deventer. Hübsches familiengeführtes Hotel, in dem die Hanse allgegenwärtig ist. Gepflegt altmodische Zimmer mit allen Annehmlichkeiten der Gegenwart, ab 90 Euro pro Doppelzimmer mit Frühstück.
Hotel Pillows, Stationsweg 9, 8011 CZ Zwolle. Boutiquehotel mit hohen Zimmerdecken, das sich seit 2007 in einer ehemaligen Polizeistation befindet, ab 155 Euro.
Restaurants: Theater Bouwkunde, Klooster 2-4, 7411 NH Deventer. Restaurant in der Altstadt, das auf saisonale Erzeugnisse setzt und einen Großteil der Produkte von Bauern aus der Region bezieht.
De Librije, Boerenkerkplein 13-15, 8011 TW Zwolle. Eines von nur zwei Restaurants in den Niederlanden, das drei Michelin-Sterne besitzt, 19,5 Punkte im Gault Millau.
Sonstiges: Bootstouren unter anderem mit Rederij Eureka ab Deventer Fährableger, Di., Mi., Do. und So. (12, 13.30, 15 und 16.30 Uhr), ab 4 Euro.
Die Fahrradroute entlang der holländischen Hansestädte
Eine Fahrradroute entlang der Hansestädte ist in einer Broschüre beschrieben, die bei den Niederlassungen des Tourismusbüros VVV erhältlich ist. Sie führt bis zum Ijsselmeer.
Sie umfasst übrigens elf Routenbeschreibungen durch die Provinz Overijssel mit Etappen von 18 bis 47 Kilometern. Die Gesamtstrecke trägt die Bezeichnung „Landelijke Fietsroute 3a“ und ist 135 Kilometer lang. Auf ähnliche Weise ist auch die Wanderroute „Hanzestedenpad“ in einer Broschüre dokumentiert.
Für jede Hansestadt (Webseite auch auf Deutsch) existiert darüber hinaus ein deutschsprachiger Stadtführer (auch beim VVV erhältlich). Das neue Smart-Phone-App „Hanzesteden“ ist bislang nur auf Niederländisch verfügbar.
Weitere Infos über die Niederlande auf der Webseite des Tourismusbüros.
Text und Bilder zur Geschichte über die holländischen Hansestädte: Ralf Johnen, aktualisiert zuletzt im Mai 2021
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