Bei Newgrange befindet sich ein großes Mysterium. Die Hügelgraber in Irland sind über 5000 Jahre alt und ihr Zustandekommen ist Wissenschaftlern ein Rätsel.
Die Iren verstehen sich darauf, schwermütige Gedichte zu verfassen. Allerorten ertönt Musik – im Idealfall von den Pogues. Und sie können es richtig krachen lassen, andernfalls wäre es ihnen kaum gelungen, mit Hilfe eines neoimperialistischen Feldzugs das Weltmonopol über die Pubs anzustreben. Deshalb war ich durchaus neugierig, wie es wohl sein würde, den Jahreswechsel in Dublin zu verbringen.
Ein Wiedersehen von den »Dubliners«
So viel vorweg: Ich bin nicht enttäuscht worden in Irland. Doch während die Gegenwart bereits ein wenig in Vergessenheit geraten war, nachdem ich zwei Geschichten aus James Joyces »Dubliners« wiedergelesen habe, war es am Silvestermorgen endgültig so weit.
Wir sind in ein motorisiertes Vehikel gestiegen, um in Richtung Norden zu fahren. Ein Schild zeigt an, dass es nach Belfast rund 180 Kilometer sind. Weit vor der nordirischen Kapitale aber biegen wir ins Landesinnere ab, um nach etwa einer Stunde das fruchtbare Boyne-Tal zu erreichen.
Ein Jungsteinzeitliches Hügelgrab in Irland
Der Fluss führt viel zu Wasser an diesem milden Wintertag, doch ich zweifle nicht an der Behauptung unserer Begleitung Siobhan, dass es sich um ein bevorzugtes Revier für Lachse handelt. Im Hintergrund sehen wir auf einer Hügelkuppe den Grund unserer kleinen Expedition: Brú na Bóinne.
Newgrange, so der englische Name, ist ein jungsteinzeitliches Hügelgrab. Es wurde vor rund 5000 Jahre angelegt, was auch mir als Kölner, der ich mich jüngst für die vielen Relikte aus der Römerzeit zu interessieren begonnen habe, ungreifbar alt erscheint. Im Besucherzentrum, das sich in diskreter Entfernung zum Monument auf der anderen Flussseite befindet, lerne ich mehr über die Epoche.
Ein ornamentierter Hinkelstein am Eingang
Menschen, die sich näher damit befassen, nennen sie Neolithikum. Es war die Zeit, in der die Zahl der Jäger und Sammler ab- und die der sesshaften Bauern zugenommen hat. Die Menschen hatten eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwa 25 Jahren. Und wer sich nicht schickte, dem wurde kurzerhand ein Loch in die Schädeldecke geschlagen, damit die bösen Geister entfliehen konnten.
Auch als wir auf das etwa zwölf Meter hohe Bauwerk zulaufen, ist mir der tiefere Sinn des Monuments noch nicht bewusst. Ich sehe einen grasbewachsenen Rundbau mit einer akkurat rekonstruierten Fassade. Vor dem Eingangsportal liegt ein mit Spiralen ornamentierter Hinkelstein. Und über der Tür befindet sich ein Fenster, das von weißen Quarzsteinen eingerahmt wird.
Material aus 30 Kilometern Entfernung
Ich lerne, dass Archäologen die Herkunft der verschiedenen Steinarten bestimmen konnte: Das Baumaterial stammt aus Gegenden, sie sich über einen Radius von rund 30 Kilometern erstrecken. Die Vorfahren der Kelten müssen sie im günstigsten Fall hierhin verschifft – und wenn das nicht ging – getragen haben.
Ich höre, dass ein Grundbesitzer das Grab um 1700 zufällig entdeckt hat. Ich wundere mich, dass der Fund erst 1882 unter Schutz gestellt wurde. Und ich bin ein wenig skeptisch, ob der Bau vor 5000 Jahren wirklich auch nur annähernd so wie heute ausgesehen hat. Dann betreten wir den Eingang. Schon noch wenigen Schritten muss ich mich bücken und winden, um vorwärts zu kommen.
Hügelgräber in Irland: sieben Meter hohe Kuppel
Siobhan sagt, dass die Menschen im Neolithikum eher von ihrer Größe waren. Das erklärt einiges. Nach ein paar Sekunden sind wir im Zentrum der Grabstätte von Newgrange angekommen. Ein Raum, der so rund ist, wie es Naturstein eben zulässt. Mit einer sieben Meter hohen Kuppel, die auch nach 5000 Jahren noch wasserdicht ist.
In Aussparungen stehen die Überbleibsel eines Altars und einer Kremationsstätte. Einige Betonsäulen sind nachträglich zur Sicherung der Stabilität eingebaut worden. Dann geht unvermittelt das Licht aus. Es dauert einige Sekunden, ehe ein Sonnenstrahl durch den Gang dringt. Während wir im Dunkeln stehen, sehen wir, wie der Fußboden heller wird.
Sonnenstrahlen an wenigen Tagen
Angela, die uns gemeinsam mit 13 anderen Besuchern in das Herz der Finsternis begleitet, erläutert ehrfürchtig das architektonische Konzept. An wenigen Tagen vor und nach der Sonnenwende am 21. Dezember dringt am Vormittag von Westen bei klarem Himmel für wenige Minuten ein Sonnenstrahl durch das Fenster in den kontinuierlich ansteigenden Gang.
Der Fußboden im Zentrum befindet sich exakt auf der Höhe des Fensters über dem Eingang. Um die Kraft des Lichts zu orchestrieren, wurde als Baustoff rundum das Fenster der weiß leuchtende Quarzstein verwendet. Aufgrund der Architektur gilt es als gesichert, dass die Menschen diesen Ort nicht nur als Grab verwendet haben, sondern auch als Versammlungsstätte zu bestimmten Anlässen.
Ein Bau zu Ehren der Sonnenwende
Der Bau des Grabs von Newgrange hat Generationen von Menschen beschäftigt, in einer Zeit ohne Messinstrumente, Bauskizzen, Bagger und Kräne. Die Vorfahren der Kelten haben diesen Aufwand betrieben, um mit ihrem Tempel der Sonnenwende zu gedenken. Jenem Zeitpunkt im Jahr, an dem die Tage wieder länger werden – von nun an sollte es nicht mehr lange dauern, ehe ihre Felder wieder Früchte tragen.
Der Jahreswechsel, so die populärwissenschaftliche Interpretation, wurde zehn Tage früher gefeiert als heute. Zurück in Dublin, freue ich mich noch einigermaßen benommen auf unser Silvester. Und denke ich mir: Das war eine erstaunlich schlüssige Idee, die die Menschen im Neolithikum da hatten.
Informationen zu den Hügelgräber in Irland
Newgrange befindet sich etwa 60 Kilometer nordwestlich von Dublin im County Meath. Geführte Führungen sind limitiert und werden nach den Prinzip „first come, first serve“ vergeben. Die Führungen dauern 75 Minuten und kosten sechs Euro.
Für den Besuch von Newgrange an den Tagen vom 18. bis 23. Dezember existiert eine Ticket-Lotterie. Obwohl keine Sonnenschein-Garantie ausgegeben werden kann, haben sich für das Erlebnis der magischen neolithischen Architekturmomente in 2013 29 750 Personen beworben.
In unweiter Entfernung zu Newgrange befinden sich mit Dowth und Knowth zwei weitere Grabstätten aus dem Neolithikum. Um der Fantasie Freiraum zur Entfaltung zu geben, ist das Fotografieren in der Grabstätte verboten.
Weitere Informationen auf den Homepages von Visit Ireland und Heritage Ireland.
Text und Bilder: Ralf Johnen, zuletzt aktualisiert im Januar 2023. Der Autor war auf Einladung des Tourismusbüros in Irland.
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Danke, Reto. Wir denken an die armen Menschen, die das vor tausenden von Jahren mit ihren bloßen Händen gebaut haben.