Die sanften Hügellandschaften befinden sich im Niemandsland zwischen dem Mittleren Westen, den Südstaaten und dem Rust Belt. Während einer großen Tour durch Kentucky schließen wir Bekanntschaft mit begeisternder Musik, betagten Vierbeinern und hochprozentigen Destillaten. Dabei erleben wir so manche Überraschung.
Ein echtes Schwergewicht zum Auftakt der Tour durch Kentucky. Das ist unser vom Jetlag genährter Gedanke, als wir in J. Graham’s Café platznehmen. So heißt das mit wuchtigen, dunklen Möbeln eingerichtete Lokal im Erdgeschoss von The Brown.
Das ehrwürdige Hotel in der City von Louisville stammt aus dem Jahr 1923 und der Legende nach hat Namenspatron James Graham Brown es nur aus einem einzigen Grund errichtet. Der liegt darin, dass ihm in einem benachbarten Nobelschuppen, dem Hotel Seelbach, der Zutritt verwehrt wurde.
Louisville, Kentucky: Geburtsort des »Hot Brown«
Nur wenig später sollten hier ähnlich wie im The Chase in Saint Louis an der Route 66 amerikanische Prominente ebenso ein- und ausgehen, wie zwielichtige Gestalten vom Schlage eines Al Capone. Auch erlangte das Haus bald darauf überregionale Berühmtheit. Im Jahr 1926 kreierte hier nämlich ein gewisser Fred K. Schmidt jenes Gericht, das nun vor uns steht.
Das »Hot Brown« ist ein großzügig mit Truthahnbrust, Schinken und knusprigem Bacon belegtes Sandwich. Es wird zunächst mit einer Bechamel-Sauce übergossen, ehe man es mit Provolone überbackt und schließlich mit Käseraspeln bestreut. Sein Verzehr ist ein Muss bei jeder Tour durch Kentucky.
Ein weiteres Schwergewicht: Muhammad Ali
Nach diesem gehaltvollen Auftakt widmen wir uns einem Mann, der seines Zeichens auch nicht als Leichtgewicht bekannt war: Cassius Marcellus Clay ist am 17. Januar 1942 in Louisville, Kentucky, zur Welt gekommen. Später sollte er als Muhammad Ali erst zum Schwergewichtschampion und später zu einer amerikanischen Ikone aufsteigen.
Das nach ihm benannte Dokumentationszentrum erweckt den vielleicht populärsten Boxer aller Zeiten mit Erinnerungsstücken, Videoeinspielungen und interaktiven Stationen auf unterhaltsame Weise zu neuem Leben.
Louisville: Wolkenkratzer am Ohio River
Wir befinden uns im Geschäftszentrum von Louisville (sprich »Luu-ville«), das sich am Südufer des mächtigen Ohio River ausbreitet. Postmoderne Hochbauten und Backsteinbauten aus der Gründerzeit der USA, als Städte wie Chicago zu Metropolen wurden, bilden rund um an die Fourth Street ein auch abends belebtes Gesamtensemble.
Deutlich eleganter zeigt sich Louisville ein paar Blocks weiter landeinwärts. Rund um den Central Park erinnern prächtig ornamentierte Villen mit weitläufigen Veranden an das Zeitalter der Frontier. Jenes Zeitalter der Abenteurer und Entdecker, als sich der zivilisierte Teil der USA schnell in Richtung Westen ausdehnte und die Zahl wohlhabender Menschen rasch wuchs.
Allein in den letzten fünf Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat sich die Einwohnerzahl von Louisville auf mehr als 200 000 fast verfünffacht. Aus dieser Epoche stammen auch die schön restaurierten Villen von Old Louisville, die das größte zusammenhängende viktorianische Viertel der USA bilden. Die Besichtigung ist eine überraschende Bereicherung der großen Tour durch Kentucky.
Aufregung beim Kentucky Derby
Wie wir am nächsten Tag auf Churchill Downs erfahren, ist auch die erste Austragung des Kentucky Derby in diese Zeit gefallen. Seitdem hat es sich zu einem der bedeutendsten Pferderennen des Planeten entwickelt.
Die gesamte Pferdewelt blickt auf Louisville, wenn am ersten Samstag im Mai die besten dreijährigen Thoroughbreds (Englische Vollblüter) der Welt zum Kräftemessen antreten.
Wer eine Karte ergattern kann, putzt sich fein heraus. So wie in England: Mit auffällig geschnittenen Kleidern und extravaganten Kopfbedeckungen – und nicht etwa in Westernklamotten.
Große Tour durch Kentucky: wahre Liebe zu Pferden
Nach dem Besuch der Rennbahn und des dazugehörigen Derby Museums erfahren wir, wie wahre Pferdeliebe aussieht. Hierzu besuchen wir Michael Blowen am Rande der Stadt Lexington. Der langjährige Filmkritiker des »Boston Globe« ist heute 74. Während seiner Karriere hat er so einige Hollywoodstars getroffen hat.
Wie er mit einem breiten Grinsen berichtet, ist ihm dabei allerdings erspart geblieben, was ihm bei Pferden ständig passiert: sich in sein Gegenüber zu verlieben. »Okay«, ergänzt er nun mit schelmischem Lächeln, »von ein oder zwei Ausnahmen mal abgesehen«.
Old Friends: Ein Altersheim für Rennpferde
Blowen hat sich vorzeitig aus seinem keineswegs langweiligen Job zurückgezogen, um sich seiner wahren Leidenschaft zuzuwenden. Seitdem unterhält er in den sanften Hügeln Kentuckys Old Friends, eine Art Altersheim für Rennpferde.
Hier verbringen die vierbeinigen Derbyhelden vergangener Tage einen würdevollen Lebensabend. Dafür steht ihnen pro Kopf ein ganzer Hektar saftiger Wiesen zur Verfügung. Außerdem können die Tiere auf eine medizinische Versorgung bauen, wie sie pensionierte Hochleistungssportler nach ihrer Laufbahn fast ausnahmslos einfordern.
Nur in Kentucky: Biblisches Alter für Rennpferde
Dank der Vorzugsbehandlung erreichen die Stars von einst bei Old Friends ein zuweilen biblisches Alter. Ein gutes Beispiel hierfür ist Silver Charm. »Mein absoluter Liebling«, wie Blowen ohne zu zögern einräumt. Der Schimmel ist stolze 27 Jahre alt und blickt auf eine Karriere als wahrer Superstar zurück: Beim Kentucky Derby schlug er am 3. Mai 1997 das gesamte Teilnehmerfeld.
Eine Leistung, welche die gut informierten Besucher bis in die Gegenwart zu würdigen wissen. Eines hoffentlich noch fernen Tages wird der Triumph auf seinem Grabstein vermeldet werden, denn auch ein Friedhof für Rennpferde gehört zur Anlage.
Bourbon aus Kentucky: Ein Mythos
Nach dieser Feelgood-Story aus der Welt der Vierbeiner setzen wir die große Tour durch Kentucky mit Kurs auf Frankfort fort. Hier gehen wir einem weiteren Mythos auf den Grund. Kenner genießen ihn mit oder ohne Eiswürfel aus Tumblern. Natürlich handelt es sich um Bourbon.
Der Whiskey wird – überwiegend in Kentucky, aber auch im Nachbarstaat Tennessee – aus einer Getreidemischung destilliert, die einen Maisanteil von mehr als 50 Prozent aufweist. Die großen Marken wie Jim Beam oder Evan Williams sind bekanntlich weltweit erhältlich. Doch das Angebot ist weitaus größer. Grund genug für uns, ein paar Kilometer südöstlich von Frankfort ein wenig Archäologie zu betreiben.
Boutique-Bourbon bei Castle & Key
Hier besuchen wir ein altes Industriegelände, das bis zum Jahre 2014 verlassen war. Es ist ein geräumiger Komplex, auf dem neben charakteristischen Backsteinbauten, die der Produktion dienen, auch ein skurriles Bauwerk steht. Dabei handelt es sich um ein mit Türmchen und Zinnen verziertes Konstrukt, das vor Ort als Schloss ausgewiesen ist. Es sieht so aus, wie sich Amerikaner Adelspaläste im alten Europa vorstellen. Hier lebte vor Generationen die Familie Taylor, die von 1887 bis zum Beginn der Prohibition im großen Stil Bourbon hergestellt hat.
Fast ein Jahrhundert war der einst so glanzvolle Komplex danach dem Verfall ausgesetzt, bis ein paar Geschäftsleute aus der Gegend im Zuge der neuen Craft-Bewegung ihre Chance witterten. Bald darauf haben sie hier mit Castle & Key eine Boutique-Destille eröffnet. Mit Event-Location, hauseigenem Geschäft, Verkostungsstube – und einem Portfolio an Spirituosen, das über Bourbon hinausgeht. Uns schmeckt der Gin am besten, den die Barmixer kunstvoll mit rotem Pfeffer, Nelken oder Koriander abrunden.
Tour durch Kentucky: Willkommen in der schönsten Kleinstadt der USA
Am nächsten Tag unserer großen Tour durch Kentucky erreichen wir mit Bardstown den Hauptort von Nelson County. Zusätzlich zu Jim Beam stehen hier noch vier weitere große Destillen. Unser Interesse aber gilt dem Ort als solchem, der bereits seit 1780 existiert und der als zweitälteste Siedlung Kentuckys gilt.
Mehr als 200 Gebäude stehen in dem 11 000-Einwohnerstädtchen unter Denkmalschutz. Genug für die USA Today, Bardstown zur »Most Beautiful Small Town in America« auszurufen. Die Aufmerksamkeit von Touristen aus dem In- und Ausland ist dem properen Städtchen seitdem nicht mehr nur wegen seiner karamellbraunen Flüssigkeiten sicher.
Auch der Geburtsort Abraham Lincolns liegt auf der Tour durch Kentucky
Als wir unsere Tour durch Kentucky fortsetzen, entdecken wir zufällig ein Schild, das auf den Geburtsort Abraham Lincolns hinweist. Am Rand von Hodgenville ist dem Retter der amerikanischen Union ein tempelartiges Denkmal von bombastischen Ausmaßen gewidmet.
Es fügt sich nahtlos in die lange Liste der positiven Überraschungen ein, an die wir uns in Kentucky immer mehr gewöhnen. Später nehmen wir Kurs auf Mammoth Cave. Hinter dem Namen verbirgt sich der einzige Nationalpark Kentuckys. Diesen Status hat sich das Höhlensystem verdient. Mit einer Ausdehnung von 678 Kilometern handelt es sich um nicht weniger, als das weltweit größte seiner Art. Ortskundige Ranger führen uns mit Taschenlampen durch eine Parallelwelt aus dunklen Gängen und unterirdischen Kathedralen voller Stalaktiten.
Loch im Boden: Das National Corvette Museum
Aufgrund einer dicken Kalksteinschicht sind ähnliche Hohlräume in weiten Teilen des Bundestaates verbreitet. Das mussten auf schmerzhafte Weise auch die Betreiber des National Corvette Museum im nahen Bowling Green erfahren. Das Ausstellungshaus machte am 12. Februar 2014 weltweit Schlagzeilen, als in der Nacht der Erdboden nachgab und mehrere wertvolle Exponate mit in die Tiefe riss.
Ihre Wracks – darunter das der einmillionsten Corvette – sind heute wie ein Mahnmal aufgebahrt. Das macht das Automuseum auch für Besucher interessant, die sich kaum für Autos interessieren.
Authentischer Bluegrass im Geburtsort Bill Monroes
Nächste Station der Tour durch Kentucky ist Rosine. Das Dorf mit zuletzt 113 registrierten Einwohnern hat auf andere Weise Furore gemacht. In Ihrer Ausgabe vom 10. Januar 2016 hat die New York Times ihren Lesern den Besuch ans Herz gelegt. Konkret ging es um den Jamboree Barn als besonders authentische Bühne für Bluegrass-Bands. Vor Ort entpuppt sich das Etablissement übrigens als baufälliger Schuppen, der von unsauber verarbeitetem Industrieschaum zusammengehalten wird.
Der Stimmung scheint das eher zuträglich. Seitdem finden zuweilen sogar die Stars des Genres den Weg nach Rosine. Meist aber sind es einfache Leute aus der Region, die hier auf der Bühne stehen. Sie singen, spielen Banjo, Fiddle, Mandoline oder Gitarre, oder sie zupfen am Kontrabass. Kurzum: sie bedienen alles außer dem Schlagzeug, denn das gehört nicht zur Instrumentierung des Bluegrass.
Alle Generationen gemeinsam auf der Bühne
Heute steht eine Formation auf dem Podium, die den Namen »Jerusalem Ridge« trägt. Er ist dem Anwesen entliehen, auf dem Bill Monroe gelebt hat. Der »Father of Bluegrass« wurde 1911 ebenfalls im winzigen Rosine geboren, wo heute ein rühriges Museum an ihn erinnert. Die Gruppe auf der Bühne besteht zunächst aus Derryl, den alle hier nur »Bigfoot« nennen, Shirley, Ed und Bill.
Später gesellt sich wie selbstverständlich Bills Enkel Jasper hinzu, der gerade einmal 14 ist, aber souverän den Kontrabass beherrscht. »In einer chaotischen Welt«, erklärt Bill, »in der wir so viele schlechte Nachrichten hören, verleiht uns die Musik immer wieder Trost«. Wie zur Bekräftigung erklingt als nächstes sogar das weithin bekannte Traditional »I am a Man of Constant Sorrow«.
Finale Etappe der Tour durch Kentucky
Einmal im Bluegrass-Mood angekommen, nehmen wir als letzte Etappe unserer Tour durch Kentucky Kurs auf Owensboro. Hier treffen wir wieder auf den Ohio River, der im Südwesten Kentuckys in den Mississippi mündet. Die viertgrößte Stadt Kentuckys zählt kurz gesagt nur 60 000 Einwohner. Dank des Flusses aber erfreut sie sich einer attraktiven Lage, die der Smothers Park am Ufer zusätzlich betont.
Ganz in der Nähe besuchen wir am späten Nachmittag die moderne Bluegrass Hall of Fame. Mit bescheidenem Erfolg versuchen wir uns hier an den typischen Instrumenten. Auf der hauseigenen Bühne steht außerdem am Abend die Band Watchhouse aus North Carolina. Sie interpretiert das Genre auf zeitgemäße Weise und hat es so zu einigem Ruhm gebracht hat.
Unser Roadtrip ist nun fast vorbei. Weil er in Louisville endet, verzichten wir aufs Frühstück. Stattdessen freuen wir uns auf ein finales Hot Brown.
Informationen zur großen Tour durch Kentucky
Louisville ist ab Frankfurt unter anderem mit United Airlines über Chicago erreichbar (ab 700 Euro). Mietwagen biete ich in der Regel über Sunny Cars (www.sunnycars.com)
Der ausgewiesene Roadtrip ist etwa 430 Meilen oder 700 Kilometer lang. Die Strecke ist üblicherweise in sieben bis zehn Tagen bequem zu absolvieren.
Allgemeine Informationen zu Louisville auch auf dieser Webseite. Weitere Informationen zu Kentucky beispielsweise auf der Homepage.
Text und Bilder: Ralf Johnen, zuletzt aktualisiert im Mai 2022.
Comment
»In einer chaotischen Welt«, erklärt Bill, »in der wir so viele schlechte Nachrichten hören, verleiht uns die Musik immer wieder Trost«. – Das trifft für den gesamten Reise-Bild-Bericht zu, es wird zeit, dorthin zu Fahren / fliegen, wieder großartig, danke für Inspirationen und viele Richtungen, manni.