Manchen Ereignissen wird auch im medialen Dschungel der Gegenwart immer noch mit Erfolg attestiert, dass sie sich in dieser Form nie mehr wiederholen werden. Die Hieronymus-Bosch-Ausstellung in seiner Heimatstadt Den Bosch war so etwas: 17 Gemälde und 19 Zeichnungen des Visionärs waren bis zum 8. Mai anlässlich seines 500. Todestages im kleinen Noordbrabants Museum zu sehen.
Mehr als 100 000 Ausländer haben das zum Anlass für eine Reise in die Provinzhauptstadt genommen. So unterschiedliche Autoren wie David Byrne von den Talking Heads und Jan-Böhmermann-Apologet und Springer-Vorstandsvorsitzender Matthias Döpfner haben darüber Geistreiches geschrieben. Kurzum: die Ausstellung war eine Sensation.
Noch viel interessanter aber fand ich den Gedanken, anlässlich der Ausstellung die nahe Sint-Jans-Kathedrale in Den Bosch ein neues Licht zu rücken. Der Sakralbau wurde vom 1530 vollendet – und auch dem Laien drängt sich der Verdacht auf, dass es schon verwunderlich wäre, wenn sich der bedeutendste Künstler der Stadtgeschichte ob der zeitlichen Überschneidungen nicht mit eingebracht hätte. Beweisen allerdings lässt sich die These in Ermangelung entsprechender Dokumente nicht.
Um der Vermutung emotionalen Nachdruck zu verleihen, haben die Masterminds des Bosch-Jahres 2016 einen kühnen Plan gefasst: Jeder sollte sich davon ein Bild machen können, ob die vielen Figuren auch dem Dach der Kathedrale eine mehr oder wenige auffällige Ähnlichkeit mit den Fabelwesen aus Hölle, Erde oder Paradies besitzen, für die Bosch heute in beispielloser Manier gehyped wird.
Dafür haben sie mit niederländischem Pragmatismus den kühnen Plan geschmiedet, das Dach des Kirchenschiffs für gut ein halbes Jahr begehbar zu machen. Möglich wird dies durch ein Stahlgerüst, das, diese Behauptung wage ich, weltweit noch nie zu diesem Zwecke diente.
Als ich vor Ort bin, erinnere ich mich an meinen ersten Besuch in der Kathedrale. Es war der 20. März 2010 – der Tag, an der in Island der Eyjafjallajökull ausgebrochen ist und der Abendhimmel in Den Bosch durch die vulkanischen Partikel so rot wie nie zuvor war. Ein Hauch von Apokalypse und Inferno – ein passender Rahmen für Hieronymus also.
Wenig später steige ich die keineswegs blickdichten Treppen hinauf, bis ich wenige Meter unterhalb des Dachfirsts stehe. Eine Schautafel mit allen möglichen Sponsoren versucht die Aufmerksamkeit hier oben auf sich zu ziehen, doch das gelingt ihr nur für den Bruchteil einer Sekunde. Mein Blick fällt viel mehr auf die Weite der Landschaft. In der Ferne geht ein Regenschauer nieder. April, so wie er sein muss.
Nach ein paar Schritten sehe ich die Figuren aus Stein, die von den Baumeistern und den ausführenden Kräften mutmaßlich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts rittlings auf die äußeren Diagonalbögen der Kirche gesetzt wurden – wohl wissend, dass sie vermutlich niemals jemand zu Gesicht bekommen würde. Außer jenem, dem das Gotteshaus gewidmet ist. Und den Engeln vielleicht.
Meine transzendentalsten Gedanken
Diese Beobachtung steht auf der Hitliste meiner transzendentalsten Gedanken ganz weit oben. Unweigerlich frage ich mich, wie man dies mit so bescheidenen Mitteln realisieren konnte und was es für eine enorme Willenskraft bedurft haben muss, in über 30 Metern Höhe 96 Statuen zu verewigen, die das mittelalterliche Leben in all seinen Facetten abbilden.
Ich könnte den ganzen Tag da oben stehen bleiben und darüber sinnieren. Ebenso, wie ich die Organisatoren beglückwünschen möchte, diese kühne Idee mit Hilfe eines Gerüsts und ein paar Holzbalken umzusetzen. Ihnen verdanke ich Eindrücke, die ich nie aus meinem inneren Speicher lösche.
Informationen:
Die Sint-Jans-Kathedrale in Den Bosch kann noch bis zum 30. Oktober bestiegen werden, danach ist der Anblick wieder den Engeln oder den Kunden zukünftiger Versionen von Google Earth überlassen. Das Ganze nennt sich mit Recht »Een wonderlijke klim« (Ein bemerkenswerter Aufstieg).
Der Eintritt kostet nur 7 Euro. Tickets werden am besten über die Webseite vorbestellt, da viele Slots ausverkauft sind. Geöffnet ist täglich von 10.30 bis 17 Uhr (Mo ab 13.30 Uhr).
Wer die Bosch-Ausstellung verpasst hat, kann ins nahe gelegene Jheronimus-Bosch-Art Center ausweichen. In dem Dokumentationszentrum hängen zwar nur Repliken, aber immerhin sind diese standesgemäß in einer Kirche platziert. Wunderbar ist auch ein Besuch des Groeninge-Museums in Brügge, wo »Das jüngste Gericht« dauerhaft ausgestellt ist.
Text und Bilder: Ralf Johnen, Mai 2016. Der Autor war privat in Den Bosch.
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