Kurz vor der Grenze zwischen Oklahoma und Texas durchquert man mit Erick einen faszinierend trostlosen Ort voller Americana-Motive. In einer Seitenstraße hat der exzentrische Harley Russell ein einzigartiges Sammelsurium an Route 66-Memorablien aufgebaut.
Folgende Geschichte wird über eine Begegnung mit Harley Russell erzählt, einer menschlichen Ikone der Route 66, Jahrgang 1945. Ob sie wahr ist oder eine hübsche kleine Legende – wer weiß das schon. Jedenfalls begab es sich eines Sommer- oder Wintertags, dass ein junges Pärchen auf seinem Weg gen Westen in einem Kaff namens Erick an der Grenze zwischen Oklahoma und Texas Station machte.
Aufstieg und Niedergang der Route 66
Erick sollte auf jedem Reiseplan für Route 66-Aficionados stehen. Nicht nur, weil die historische Straße durch den Ort verläuft. Sondern auch, weil dessen Aufstieg und Niedergang symbolisch für die Entwicklung in weiten Teilen des Mittleren Westens steht.
1901 gegründet, betrieben die 686 Einwohner damals überwiegend Landwirtschaft. Baumwollproduktion, kleinere Öl- und Gas-Funde ließen den Ort prosperieren und bis 1940 auf rund 1600 Seelen anwachsen.
Auch für Reisende auf der Route 66 hielt Erick ein breites Angebot vor: Tankstellen, Restaurants, Geschäfte und gleich mehrere Gotteshäuser, in denen Gläubige um Beistand bei der Weiterreise bitten konnten. Das West Winds Motel aus den 1940er Jahren steht zwar heute noch so grade, ist aber dem Verfall preisgegeben.
Nur ein Tumbleweed auf der Straße
Als die beiden Deutschen nun also an diesem Sommer- oder Wintertag nach Erick kommen, haben sie gleichfalls den Eindruck eines praktisch verlassenen Ortes.
Die Geschäfte sind mit Brettern verrammelt, kein Mensch auf der Straße, Tumbleweed weht über die staubige Straße. Der Mann ist begeistert ob der Fotomotive, die Frau winkt ihm noch zu: „Ich seh’ mich nur ein bisschen um…“.
Sie geht um die Ecke, spinkst hier in ein geschlossenes Geschäft und dort in einen verlassenen Hof. Bis sie ein mit alten Werbeschildern zugepflastertes Backsteinhaus mit der verblichenen Aufschrift „City Meat Market“ erblickt.
Es scheint verlassen zu sein, aber das bunte Durcheinander der Reklametafeln zieht sie magisch an. Zwei Treppenstufen hoch, steht sie vor der Tür. Zieht vorsichtig am Riegel. Mit einem Knarzen öffnet sich die Tür. Und da! Wir sie von einer Hand gepackt und hineingezogen!
Marihuana-Dunst im Wilden Westen
»Welcome to the Redneck Capital of the World!«, ruft ihr ein kleiner, alter, bärtiger Mann lauthals lachend entgegen. Als die Frau sich von dem Schrecken erholt hat und im Marihuana-Dunst wieder zu Atem gekommen ist, blickt sie sich staunend um: der Raum ist bis zur Decke vollgestopft mit Tausenden von Route 66-Artefakten, Instrumenten, Leuchtreklamen. Sie hat das Reich Harley Russells betreten, der wohl jedem Mother Road-aficionado bekannt sein dürfte.
Nicht nur wegen seiner beachtlichen Sammlung, sondern auch als Musiker. Jahrzehntelang traten der exzentrische Hillbilly und seine bildhübsche Frau als „Mediocre Music Makers“ auf und begeisterten mit ihrer gar nicht mittelmäßigen Musik das Publikum. 2014 verstarb seine geliebte Annabelle, Harley trat nun alleine auf.
Verängstigte Passanten
Der Entertainer schüttelt sich wieder vor Lachen, als ein verängstigt dreinblickender junger Mann auf der Suche nach seiner verschwundenen Freundin in den »Sandhills Curiosity Shop« fällt, in dem übrigens nichts verkäuflich ist. Gemeinsam mit zwei befreundeten Nachbarn zieht die Gesellschaft dann in Harleys Wohnhaus, wo sich das Sammelsurium aus Antiquitäten und Erinnerungsstücken fortsetzt.
Zum Abschied spielt Harley Gitarre, trinkt dabei einen Schluck Whiskey aus der Flasche. Als das verzauberte Pärchen gehen will, lacht er noch einmal aus vollem Hals und bittet sie, die Tür hinter sich zuzuziehen – er hat sie wieder für sich allein, die »Redneck Capital of the world«.
Informationen zur Legende der Route 66: Harley Russell
Anfahrt: Etwa 230 Kilometer westl. von Oklahoma City (Fahrtzeit 2 Stunden und 15 Minuten)
The Sandhills Curiosity Shop: 201 S Sheb Wooley Ave, Erick, OK 73645, keine festen Öffnungszeiten, Trinkgelder sind willkommen. Harley Russell hat mehrfach angekündigt, dass er sich zur Ruhe setzen wolle. Die Zukunft des Curiosity Shops ist ungewiss.
Attraktion in der Nähe: in Elk City (knapp 50 Kilometer vor Erick auf der Route 66 Richtung Westen) befindet sich das National Route 66 Museum mit einer liebevoll zusammengestellten Ausstellung. Es befindet sich in einem Komplex mit vier weiteren Museen, die zusammen das Leben früherer Zeiten in all seinen Facetten darstellen. Interessant ist das Freilichtmuseum, in dem ein ganzes Dorf nachgebaut wurde.
Elk City Museum Complex, 320 W 3rd Street, Elk City, OK 73644, geöffnet montags bis samstags von 9 bis 17 Uhr, sonntags 14 bis 17 Uhr (im Winter sonntags geschlossen). Der Eintritt koste5 fünf Dollar für den gesamten Komplex für Erwachsene, vier Dollar für Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren.
Text und Bilder: Ralf Johnen, 2021. Die Reise zu den Highlights der Route 66 wurde zum Teil vom Tourismusbüro von Oklahoma unterstützt.
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