Die Riads von Marrakesch sind heute eine Attraktion ersten Ranges. Vor nicht allzu langer Zeit waren die in der berühmten Medina gelegenen Innenhöfe noch dem Verfall preisgegeben. Eine Begegnung mit ihrem Retter.
Die grob gepflasterten Gassen der Souks in Marrakesch sind gerammelt voll. Es riecht erst nach Gewürzen, Parfüm und gegerbtem Leder. Später nach Fisch, und tief im Innern des Labyrinths sprühen im Handwerkerviertel die Funken bei der Metallverarbeitung. Ich ahne: die Riads von Marrakesch sind nicht mehr fern.
Trubel in der »roten Stadt«
Männer in Gewändern, verhüllte Frauengesichter, Jugend in Jeans. In verblüffend hoher Geschwindigkeit bahnen sich hupend Mopedfahrer im Zick-Zack ihren Weg durch die Menschenmassen. Afrika eben. Ein alter Mann auf einem morschen Eselskarren treibt sein müde dreinblickendes Tier an und ruft immer wieder »Attention!«.
Der Lärm ist groß, und als europäischer Gast braucht man eine Weile, um sich im Trubel der »roten Stadt« nicht mehr wie eine lebendige Temposchwelle vorzukommen. Zum Glück aber gibt es Menschen wie Mustapha Benfaraji. Der großgewachsene Mann mit dem seidig-braunen Rundgesicht ist Touristenführer. Bekleidet ist er mit einem bodenlangen, weißen Gewand, in dem er seine Gäste wie an einer unsichtbaren Schnur durchs Gewimmel zieht.
Stress auf den Märkten
»Durch die Souks zu laufen, ist wie ein Spaziergang der Düfte«, sagt Mustapha in prosaischem Deutsch. Als hätte er keine Ahnung, welchen Stress die Mentalität der Markthändler bei Besuchern auslösen kann.
Derweil habe ich den Fehler begangen, ein Paar spitze Hausschlappen etwas zu lange anzuschauen. Schon bin ich mitten drin im ungewollten Verkaufsplausch. Wie viel ich zahlen würde, aber ich will ja gar nicht kaufen, nur wie viel ich w-ü-r-d-e. Ich muss für meine Begriffe unfreundlich werden.
Geheime Verabredung
Doch Marrakeschs Altstadt, die berühmte Medina, bietet auch ein Anti-Stress-Programm. Mustapha huscht mal links, mal rechts um die steinernen Ecken, durchschreitet Rundbögen und Tore.
Die Gassen sind jetzt menschenleer, und meine Fantasie lässt mit Krummdolchen bewaffnete Männer in bunter Seidenkluft aus dunklen Ecken springen. Schließlich klopft Mustapha an eine niedrige Holztür, die sich so plötzlich öffnet, als gebe es eine geheime Verabredung. Gebückt schreiten wir durch den Rahmen. Schlagartig ändert sich die Atmosphäre.
Riads von Marrakesch: Häuser mit begrüntem Innenhof
Das Dar Chérifa, Künstlertreff und Literaturcafé in der Medina, empfängt einen wie einen alten Bekannten. Nach einem Gewölbegang tut sich ein Innenhof mit verzierten Säulen auf, in der Mitte eine quadratische Vertiefung im Marmor mit Wasser und Rosenblütenblättern darin.
Es herrscht Stille und bei Außentemperaturen um die 40 Grad eine angenehme Kühle. »Privatsphäre zuerst« war das Credo der Erbauer solcher Riads, wie sich die typischen Altstadthäuser mit oft begrüntem Innenhof nennen.
Wohlriechende Dunstglocke
Auch im Dar Chérifa ist diese Intimität zu spüren. Es wird ungefragt Minztee zu süßem Gebäck serviert, die Gespräche sind gedämpft. An Wänden und Säulen hängen bunte Bilder eines örtlichen Künstlers – für den Abend ist eine Vernissage geplant.
Alles in allem das völlige Gegenprogramm zu den Souks oder dem quirligen Hauptplatz Djemaa El Fna. Dieser platzt abends aus allen Nähten, wenn sich Artisten zu den Schlangenbeschwörern und kartenlegenden Wahrsagerinnen gesellen. Währenddessen setzen die Garküchen der Szene eine riesige, wohlriechende Dunstglocke auf.
Verfall wie in Ostberlin
Dabei kommt dem Dar Chérifa unter den hunderten Riads Marrakeschs eine Schlüsselrolle zu. Es ist das älteste, noch bestehende Wohnhaus der Medina, irgendwann im 16. Jahrhundert errichtet. Moscheen und öffentliche Gebäude sind noch älter in der einst aus rotem Lehm gebauten Stadt.
Und es ist eines der ersten Häuser, die restauriert wurden. »Anfang der Neunziger war die Bausubstanz in der Medina in einem Zustand wie die Altbauten in Ostberlin nach der Wende, und eine Kanalisation gab es so gut wie nicht«, sagt Abdellatif Aït Ben Abdallah. Der kleine Mann mit dem gebügelten Hemd gilt als Retter der Medina, bei der Restaurierung von rund 100 Riads hat er mittlerweile mitgewirkt.
Flucht aus der Medina
»Nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 setzte eine Art Flucht aus der Medina ein – keiner wollte die Riads mehr, man zog in die Neustadt«, sagt Abdallah. Welche kulturhistorische Bedeutung die von außen so unscheinbaren Lehmhäuser haben, wurde ihm bewusst, als er Anfang der Neunziger mit dem Architekten Quentin Wilbaux durch die Gassen zog.
Der Belgier schoss innerhalb von vier Jahren Fotos von 6000 Häusern für seine Masterarbeit und war einer der wenigen Gäste. »Es gab damals keinen Tourismus in der Medina«, erinnert sich Abdallah.
Maisons d’hôtes in den Riads von Marrakesch
Das hat sich bis heute gründlich geändert. Als Abdallah vor über 20 Jahren ein Riad zum Gästehaus umbauen wollte, galt er als verrückt. »Heute gibt es 700 dieser Maison d’hôtes.« Was einsetzte, war ein Run auf die alten Häuser und eine Explosion der Preise.
»Der Boom kam durch eine Sendung im französischen Fernsehen«, sagt Gabriele Noack-Späth. Die Deutsche gehört zu den frühen Investoren und betreibt mit dem Riad Noga eines dieser Gästehäuser. »Es gibt viele, die nicht wissen, dass es im turbulenten Marrakesch diese Oasen gibt.«
Das Land von Milch und Honig
Auch die Diplomatentochter Julia Bartels betreibt eine Herberge mit kühlen Innenhöfen. Eine davon verfügt über einen eiskalten Pool – das Riyad El Cadi: »Riad heißt im Arabischen Garten«, sagt die Deutsche. »Gemeint ist das Paradies, in dem Honig, Milch, Wasser und Wein fließen, wie es im Koran erwähnt wird.« Typischerweise sind die Innenhöfe in vier Parzellen geteilt, die mit Fruchtbäumen und Kräutern bepflanzt sind.
Bartels‘ nicht ganz günstige Unterkunft bietet keinen Zimmerservice oder andere Selbstverständlichkeiten der modernen Hotellerie wie einen 24-Stunden-Desk. Der Reiz liegt woanders. Keine der großzügigen Suiten gleicht der anderen, sie zu erreichen, gleicht einer Schnitzeljagd über verwinkelte Treppen und Gänge. Das Frühstück mit süßer Dickmilch und Honig wird auf der Dachterrasse gereicht. Unter gespannten Zeltdächer, die an die Wüstencamps der Karawanen erinnern.
Der steile Aufstieg der Riads von Marrakesch
Selbst außerhalb der dicken und zur Belüftung mit Löchern perforierten Stadtmauer haben die Riads ihren Siegeszug angetreten. Riad ist heute zum Synonym für Hotel schlechthin geworden. Manchmal wird nur der Begriff aufgegriffen, wie im Falle des Ryad Mogador Hotels and Spa. Andere setzen die Idee des intimen Gartens architektonisch um.
So auch das Amanjena, eine mondäne Anlage vor den Toren Marrakeschs. Hier kann eine Nacht in zweistöckigen Bungalows mit Namen wie The Garden House bis zu 3100 Euro kosten. Und selbstredend verfügt auch das prunkvolle Hotel Mamounia über schöne, aber meist menschenleere Innenhöfe.
Schattenseiten des Erfolgs
Aber auch die Ruhe in den engen Altstadtgassen abseits der Souks hat etwas Blutleeres bekommen. »Früher tollten hier die Kinder«, sagt Guide Mustapha. Heute ist die überwiegende Mehrheit der Riads in ausländischen Händen und dient als Unterkunft. Andererseits würde es die Medina ohne den Tourismus wohl nur noch als Schutthaufen geben. Davon ist zumindest ihr Retter, Abdellatif Aït Ben Abdallah, überzeugt.
Nie vom Verfall bedroht waren opulente Bauwerke wie der maurische Bahia-Palast. Diesen hat Mitte des 19. Jahrhunderts ein Großwesir errichten lassen. »Er zeigt einen Einblick in die marokkanische Wohnkultur«, sagt der Guide. Gemächer und Höfe wechseln sich ab, überall geschnitzte Holzdecken, bunte Kacheln, Marmor.
Tropische Vegetation
Vor allem der größte, 50 mal 30 Meter große Hof Cour d’honneur mit dem tropischen Bewuchs war als Abbild des Paradieses gedacht. Heute marschieren Touristen in Hundertschaften durch die alten Gemäuer. Von der einstigen Intimität ist anders als im Falle der versteckten Gästehäuser nicht viel geblieben.
Informationen zu den Riads von Marrakesch
Anreise: Von Deutschland fliegen Fluggesellschaften wie Easy Jet, Lufthansa, Ryanair oder Royal Air Maroc nach Marrakesch. Der Flughafen Marrakesch-Menara liegt rund sechs Kilometer vom Stadtzentrum. Viele Riads bieten einen kostenpflichtigen Transfer an.
Reisezeit: Marrakesch ist ganzjähriges Reiseziel. Juli und August sind mit manchmal jenseits von 40 Grad Celsius die heißesten Monate, selbst im Winter sinkt das Thermometer tagsüber selten unter 20 Grad. Regenperioden sind selten und kommen nur in Herbst und Winter vor.
Allgemeine Hinweise zum Urlaubsland Marokko auf der Webseite von Visit Morocco.
Text und Fotos: Stefan Weißenborn, zuletzt bearbeitet im Dezember 2024.
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