Ich stehe um 7 Uhr auf. Das ist knapp kalkuliert, weil ich eine Stunde später die Straßenbahn am Barbarossaplatz nehmen muss. Diese immerhin ist recht verlässlich, weil sie sofort unter die Erdoberfläche abtaucht. Der Intercity zum Flughafen Düsseldorf bestätigt mein Zeitmanagement als souverän: Er liefert mich pünktlich um 9.02 Uhr ab.
Unterwegs allerdings schwant mir Böses: Ich bekomme eine SMS mit der unheilvollen Ansage, dass das Sicherheitspersonal in CGN und DUS streikt. Nach dem Transfer per automatisierter Schwebebahn sehe ich, dass es sich nicht um eine Falschmeldung gehandelt hat: Zwei Schlangen ziehen sich quer durch Terminal A. Eine steht bewegungslos vor den vakanten Abfertigungskubikeln. Die anderen vor dem Ticketschalter der Lufthansa.
Während ich von Sodbrennen und allgemeiner Misanthropie geplagt an an meiner Wasserflasche nuckle, zerstört eine adrett uniformierte Dame die letzten Illusionen: Passagiere nach Zürich sollen nach vorne kommen. 30 Minuten vor Abflug bedeutet das nichts anderes, als dass ich NICHT in diesem Flieger sitzen werde.
Erst aber mogle ich mich mit schlechtem Gewissen – und gegen den Widerstand transpirierender Anzugträger – an der Schlange vorbei, um alsbald in ihrer bewegungslosen Mitte zu enden. Eine Dienstleistungsdrohne versucht die nervösen Passagiere mit Erfrischungsgetränken zu beschwichtigen. Ein pickliger Geschäftsreisender aber hat sich vorgenommen, bei der Nummer auf gar keinen Fall mitzumachen. Ihm steigt die Zornesröte ins Gesicht und ich ahne, dass er kurz vor einem von Fäkalsprache genährtem Verbalausbruch steht. Nach zehn Sekunden fängt er an zu bellen. Die blau-gelb gekleidete Frau erträgt es tapfer: „Lufthansa is not responsible for security“, lässt sie wissen. „But Lufthansa has MY FUCKING MONEY.“
Nun summt ihr eine Kollegin etwas ins Ohr. Ihre Miene verfinstert sich. Ich höre das Wort „Zürich“. Dann ist es offiziell. Die Lady räuspert sich und sammelt all ihren Mut um dem Mob zu erklären, dass unser Flieger gerade ohne Passagiere zurück in die schöne Schweiz geflogen ist. Wer Gepäck aufgegeben hat, möge ihr folgen. Dann sagt sie: „Wer heute nicht unbedingt verreisen muss, fährt jetzt am besten nach Hause.“ Eine Passagierin kontert: „But Zurich is my home.“ Fällen dieser Art bleibt nur der Gang zum Ticket-Schalter, vor dem sich eine etwa 450 Meter lange Schlange aufreiht.
Ich folge der Dame durch Türen, die dem Reisenden in der Regel verschlossen bleiben. Nicht ohne Sorge blicke ich auf die fauchenden Geschäftsleute und ihre purpurnen Köpfe. Die nächsten Flieger sind für den Nachmittag disponiert. Das hat keine Zukunft.
Zurück im Besitz meines Koffers beschließe ich, nach Alternativen zu suchen. Um 12.34 Uhr, also in gut zwei Stunden, fährt ein ICE nach Basel. Gemäß Reisebüro aber könnte ich auch ab Frankfurt fliegen. In Hessen streikt der Öffentliche Dienst nicht. Also steige ich in die fahrerlose Schwebebahn, um zum Hauptbahnhof zu gelangen. Dort erfahre ich, dass die Verbindung nach Gstaad mit nur viermaligem Umsteigen gar nicht so unvorteilhaft ist. Allerdings ist der ICE ausgebucht.
Ich nehme wieder Kontakt zum Reisebüro auf. Nun heißt es, dass mir ein Platz auf der Maschine um 14.30 Uhr ab FRA sicher ist. Ist knapp, aber müsste klappen. Doch auch der Zahn wird mir gezogen: Es ist Januar – und der ICE kann „witterungsbedingt“ nicht mit voller Geschwindigkeit über die High-Speed-Trasse fahren.
Zaghaft starte ich in FRA den Versuch, auf den LH-Flug um 16.30 zu kommen. Ob ich Mitarbeiter sei, möchte man wissen. Verdutzt antworte ich, dass der darauf hindeutende Buchungscode dem Journalistenkontingent der Swiss geschuldet sein könnte, die den Flug ab DUS hätte durchführen sollen. Irgendeine Nathalie greift zum Telefon, um den Sachverhalt aufzuklären. „Geht leider nicht“, bescheidet ihr Supervisor.
OK, dann warte ich halt. Nachdem ich ein Curry inhaliert habe, bleiben knapp drei Stunden. In Winterschuhen – und somit mit dampfenden Füßen – schleiche ich durch das Terminal. Pornokino? Spielhalle? Oder jüdischer Gebetsraum? Nicht meine Welt. Gedankenverloren flirte ich mit einem Stiletto-Bunny, das knapp bekleidet auf der Motorhaube eines Premium-Automobils sitzt. Doch auch sie will nichts von mir wissen.
Trotz früher Stunde trinek ich ein Bier bei Käfer Feinkost. 5,80 Euro. Immerhin kann sich die Kellnerin ein Lächeln abringen, obwohl sie tagein, tagaus in den Fettausdünstungen der Küche arbeiten muss. Anderthalb Stunden vor Abflug stelle ich mich bei der Sicherheitskontrolle an. Ich frage mich, warum die Leute nicht auch hier streiken. Der Job muss die Hölle sein: Jeder Passagier ist ein potenzieller Terrorist, der seine übelriechende Schuhe aufs Band stellen muss. 1000 Körper am Tag abtasten, ohne die Genitalien zu berühren. Und dann sind da noch die Anzugträger.
Nach 45 Minuten bin ich durch. Entkräftet gehe ich zu meinem Gate, wo noch ein Hauch von altem Flug-Glamour fortlebt: „Die Zeit“ liegt aus. Und ich kann mir Grünen Tee zubereiten. Wow. Der Flieger freilich steht auf einer Außenposition, was in FRA gemeinhin eine 20-minütige Busfahrt zur Folge hat. Die Wichtigsten drängen zuerst in das Gefährt, wo sie die Türen blockieren, damit sie auch ja als erste wieder rauskommen.
Der Flug nach Zürich dauert geschlagene 35 Minuten. 180 Sekunden zu lang, um am Bahnhof meinen Anschluss nach Bern zu erreichen. Das heißt: warten. Immerhin wähne ich mich noch in der Gewissheit, dass die Schweizer Bahnen per Definition keine Verspätung kennen. Ich kaufe mir eine Dose Feldschlösschen für 4,30 SFR, um am Bahnsteig entgeistert zu konstatieren, dass der nächste Zug seine Fahrt am Hauptbahnhof von Zürich wegen eines Defekts unterbrechen muss. Bei Ankunft, so die Ansage, gelte es, in einen Ersatzzug umzusteigen.
Immerhin geht es weiter. Als ich in der 1.Klasse Platz nehme, frage ich mich kurz, was der Schaffner wohl von meinem angeblich universaleinsetzbaren Blanco-Ticket halten mag, das mir das Tourismusbüro der Schweiz für meinen Rechercheaufenthalt großzügig zur Verfügung gestellt hat. Ich denke an den großen Max Frisch, der seinen Landsleuten zeitlebens einen Hang zu Skepsis und Kleingeistigkeit attestiert hatte. Und ich frage mich, ob es wohl zum eidgenössischen Weltbild passt, wenn ein Tourist in der 1. Klasse Dosenbier trinkt. Die Sorgen allerdings hätte ich mir sparen können, wie schon den ganzen Tag über werde ich kaum beachtet.
Für Bern war mir ein längerer Aufenthalt in Aussicht gestellt worden. Doch meiner Überraschung steht am gegenüberliegenden Gleis ein Intercity, der in meine Richtung fährt: nach Spiez. Ausweislich der Anzeigetafel handelt es sich auch hierbei um einen Ersatzzug.
Als ich mich – in der mit Nadelstreifenpolstern ausgestatten – 1. Klasse niederlasse, entschuldigt sich der Zugführer für den leider heute fehlenden Speisewagen. Es ist inzwischen 21.10 Uhr und ich rolle in Richtung Interlaken, ein Ort, den ich früher irrtümlicherweise für ein Bettwäschekombinat der DDR gehalten habe. Wann ich in Spiez ankomme, weiß ich nicht.
Der Bahnhof dort ist nicht so verwaist, wie ich befürchtet hatte – aber auch er birgt Überraschungen: Die mit feinem Granitboden ausgestattete Toilette ist mit Schwarzlicht illuminiert, die nicht weniger edle Untertunnelung zu den anderen Gleisen wird in ohrenbetäubender Lautstärke mit Maultrommelmusik beschallt. Wenn Frisch das gewusst hätte.
Ich bin froh, als kurz vor 22 Uhr der Lötschberg-Express einfährt. Endstation Zweisimmen, wo ich einen wortkargen Taxi-Chauffeur für meine Zwecke gewinnen kann. Auf halber Höhe zum Rinderberg spuckt er mich aus. Ich soll hier auf einen Motorschlitten warten, der nach etwa fünf Minuten auftaucht. Das Ding wird von einer betrunkenen Holländerin gefahren, Willemijn. Sie erklärt kurz, dass sie unbedingt mal so ein Gefährt steuern wollte. Und sie ist nicht sonderlich überrascht, dass ich ihre Sprache spreche.
Mich wiederum kann nach diesem Tag auch nichts mehr aus der Fassung bringen, zumal mir der Taxifahrer mit auf den Weg gegeben hatte, dass die Mitglieder einer holländischen Frauen-Band die einzigen Gäste in der Hamilton Lodge seien. Ich nehme das einfach hin und bin froh, dass ich nach zehn Zügen, einem Flugzeug, einem Bus, einem Taxi und einem Motorschlitten mein Ziel erreiche.
Es ist ein zum Boutique-Hotel umgebautes Alpenhaus, das ein ebenso entspannter wie geschäftstüchtiger Marketing-Typ mit seiner Partnerin betreibt: John und Jacqueline. Ich werde mit Feldsalat und Weizenbier begrüßt. Und falle nach 17 Stunden Reise in einen tiefen Schlaf .
Ralf Johnen, März 2014. Der Autor hat sich mit Unterstützung von Gstaad Tourismus und Schweiz Tourismus auf den Weg gemacht. Die dazugehörige Geschichte steht hier.
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