Im Pazifischen Nordwesten der USA sind die Menschen verrückt nach Espresso. Egal, ob in den Bergen, an den Stränden oder in den Städten: eine Rundreise durch Washington State beweist, dass die Emanzipation von der kümmerlichen Kaffeekultur der neuen Welt gelungen ist.
Wir lehnen an der Reling der Fähre und schauen auf die Skyline von Seattle, die immer kleiner wird. In gut 30 Minuten werden wir Bainbridge Island erreichen, die erste Station unseres Roadtrips über die Olympic Peninsula im Nordwesten der USA. Zeit genug für einen Kaffee, denken wir. Doch zum Auftakt unserer Rundreise durch Washington State mögen wir der Maschine im Bordrestaurant nicht so recht vertrauen.
Bainbridge Island: Paradies vor den Toren Seattles
Am Ziel angekommen, suchen wir stattdessenden das Stammhaus von Pegasus Coffee auf. Es verbirgt sich neben einem Rhododendrongebirge in einem mit Efeu bewachsenen Backsteinbau. Schon seit 1979 erfreut das Team seine Kunden mit großkonzernunabhängigem Kaffee. Nebenbei dient das Café als eine Art Gemeindezentrum mit Bücherregal, einer kleinen Bühne und gepflegter Beschallung mit Indie-Pop.
Sofort kommen wir mit einigen Locals ins Gespräch, die von Bainbridge Island als einem jener Orte schwärmen, wo es sich in unmittelbarer Nähe zu einer Großstadt sorgenfrei leben lässt. Die Insel ist etwas größer als Manhattan, doch nur 25 000 Meschen nennen sie ihr Zuhause.
Auf der Straße spielen Kinder, die Restaurants sind hochklassig. Und wer nach Kultur verlangt, nimmt einfach die Fähre nach Seattle.
Rundreise durch Washington State: der erste Espresso
Nach dieser euphorischen Einführung bestellen wir erwartungsfroh einen Espresso. Davon kann man nicht genug haben mit neun Stunden Zeitverschiebung. Doch unser Urteil fällt durchwachsen aus: das Gebräu ist heiß und stark, verfügt aber über deutlich zu viel Säure. Liegt das an uns, am Luftdruck – oder sind die Pioniere von einst selbstgefällig geworden?
Enttäuscht fahren wir über waldreiche Inseln und Halbinseln in Richtung Norden, bis wir Port Townsend erreichen. Noch so ein Vorzeigestädtchen an der malerischen Küste des Puget Sound, wo wir am Folgetag eine Bootstour unternehmen. Auch Ende Mai ist es beträchtlich kalt an Bord, doch zu unserer Freude sehen wir eine siebenköpfige Orca-Familie.
Ein aromatisch ausbalancierter Americano
Um wieder auf Temperatur zu kommen, begeben wir uns am Nachmittag zu Better Living Through Coffee. Staunend beobachten wir die junge Barrista bei der Zubereitung unseres Americano.
Zur Krönung gießt sie aus einer Höhe von mehr als einem halben Meter siedend heißes Wasser in einen Filter. Das Ergebnis ist aromatisch ausbalanciert. In diesem Atelier kommen wir der Sache näher.
Am nächsten Tag erreichen wir den Olympic National Park, der sich über mehrere unzusammenhängende Parzellen erstreckt.
Erstes Ziel ist Hurricane Ridge, eine auf 2064 Meter gelegene Bergstation, wo sich der Schnee sieben Meter hoch auftürmt. Später passieren wir den idyllischen Bergsee Lake Crescent. Doch bis zum Hoh Rain Forest schaffen wir es ohne Koffein nicht mehr.
Espresso im temperierten Regenwald
Mit entsprechender Freude registrieren wir, wie auf dem Weg in den temperierten Regenwald an einer hoch aufgeschossenen Hemlock-Tanne ein Banner mit der Aufschrift »Espresso« flattert.
Es gehört zum Hard Rain Café, einem lustigen Hillbilly-Schuppen, der an diesem Nachmittag von zwei Teenagern betreut wird, die lautstark deutsche Vokabeln lernen.
Als wir uns umsehen, entdecken wir eine Kaffeemaschine italienischer Herkunft, welche die beiden für unseren kräftigen Shots aktivieren. Einer dreistündigen Wanderung durch die tiefgrünen Wälder moosbehangener Baumriesen steht nichts mehr im Wege.
Rundreise durch Washington State: Kaffee auch an der Küste
Als wir am nächsten Morgen die Pazifikküste erreichen, wundern wir uns kaum noch, dass auch der Laden am abgelegenen Kalaloch Beach mit der Aufschrift »Groceries, Firewood, Espresso« wirbt.
Das bestellte Gebräu erweist sich als dickflüssig, heiß und sehr stark – als wären wir in einer urbanen Kaffeemanufaktur.
Eine solche erreichen wir nach einer schwelgerischen und bis heute mobilfunkfreien Autofahrt entlang der südlichen Küste am späten Nachmittag in Olympia.
Zunächst staunen wir über die vielen Studenten, die das 60 000-Einwohnerstädtchen mit Leben erfüllen.
Olympia: Der Olymp der Kaffeekultur
Neben Fachgeschäften für Schallplatten, Bücher und Vintage-Klamotten entdecken wir auch eine zur Espresso-Bar umgebaute Tankstelle.
Wir aber möchten sitzen und entscheiden uns daher für die Olympia Coffee Roastery, die sich als feine Kaffee-Werkstatt erweist.
Aus der elaborierten Apparatur gewinnt die Crew einen formidablen Cold Brew – und die Porzellan-Tassen sind so geschmackvoll, dass wir uns zwei kaufen. Ob Seattle diese Hochburg der Kaffeekultur noch zu übertreffen vermag?
Die Anfänge sind viel versprechend, denn bei Monorail Espresso stehen echte Blumen auf den Tischen und die Tasse kommt auf einem Tablett in Begleitung eines mit Wasser gefüllten Glases. Auch der Latte auf der Space Needle kann sich sehen lassen.
Das Kaffeelabor der Zukunft in Seattle
Doch der wahre Test steht noch bevor, denn die Firma, die dem Coffee to go und dessen namentliche Zuordnung auf dem Pappbecher zur weltweiten Akzeptanz verholfen hat, betreibt in Seattle eine Art Labor für den Kaffee der Zukunft. Das Ganze nennt sich Starbucks Reserve und befindet sich in einem Bungalow aus der Gründerzeit im hippen Stadtteil Pike/Pine.
An zentraler Stelle des geschmackvoll abgedunkelten Raums gruppieren sich Mitarbeiter um Maschinen, die an den Chemieraum in der Schule erinnern, und die sie mit wissenschaftlichem Ernst bedienen.
Im Hintergrund klappert wie in einem Flughafenterminal vergangener Tage eine Anzeigetafel, die das aktuelle Kaffeeangebot ausweist. Wer dennoch Fragen hat, kann sich an einen Concierge wenden, der sich als taubstumm herausstellt und der mithilfe eines Tablets kommuniziert.
Ein Nitro Float für 11,50 Dollar
Nach dem Studium der Karte entscheiden wir uns für einen Nitro Float, ein Getränk, das stundenlang kalt aufgebrüht, mit Stickstoff aufgeschäumt und mit einer Kugel Vanilleeis angereichert wird, ehe es servierfertig ist. Kostenpunkt: 11,50 Dollar plus Tax.
Es schmeckt so gut, dass wir kurz glauben in dieser besseren Zukunft angekommen zu sein, von der immer so viel die Rede ist. Die Kaffeeküche auf der Fähre nach Bainbridge Island scheint in diesem Moment ganz weit weg.
Informationen zur Rundreise durch Washington State
Anreise: Seattle ist ab Deutschland per Nonstopflug ab Frankfurt/Main erreichbar. Du kannst zum Beispiel mit Lufthansa fliegen.
Sollte dein Flug annnuliert werden, eine Verspätung von mindestens acht Stunden haben, oder überbucht sein, kannst du von deinen Fluggastrechten Gebrauch machen. In diesem Fall steht die nach EU-Recht Entschädigung zu. Mit der Abwicklung kannst du spezialisierte Unternehmen wie AirHelp beauftragen, die über eine hohe Erfolgsquote verfügen.
Unterkunft: Hotel Ändra, das Hotel befindet sich mitten in Seattle und versteht sich als Hotel, in dem sich vor allem Europäer wohlfühlen, ab 200 $ im DZ. 2000 4th Avenue, Seattle, WA 9812.
Mietwagen
Für den Roadtrip durch Washington State ist ein Mietwagen erforderlich, z.B. über Sunny Cars ab 460 EUR/Woche. sunnycars.com
Aktivitäten
Space Needle: Bau-Ikone mit grandioser Aussicht, die anlässlich der Weltausstellung 1961 errichtet wurde. 400 Broad St., Seattle, WA 98109, spaceneedle.com, tgl. mind. 10-19 Uhr, 35 USD
Museum of Pop Culture: Einzigartige Ausstellung über Musik, Videospiele und Film in einem Bau von Frank O. Gehry. 325 5th Avenue N, Seattle, WA 98109, Do-Di 10-17 Uhr, mopop.org, ab 26 USD
Monorail: Futuristischer Zug, der Downtown innerhalb von drei Minuten mit der Space Needle verbindet, seattlemonorail.com, ab 3 USD
Hoh Rain Forest: im Olympic National Park, nps.gov/olym, 30 USD/Fahrzeug
Essen und Trinken
Starbucks Reserve (starbucksreserve.com, 1124 Pike St., Seattle, WA 98101), Olympia Coffee Roasting (olympiacoffee.com, 600 4th Ave E, Olympia, WA 98501).
Weitere Informationen zu einem Roadtrip durch Washington State findest du auf den Webseiten von Visit Seattle (visitseattle.org), Port of Seattle und Washington State.
Text und Fotos: Ralf Johnen, Mai 2023. Der Autor wurde für die Recherchen bei der Rundreise durch Washinton State vom Port of Seattle unterstützt.
2 Comments
…wieder ein in jeder Hinsicht toller Reisebericht, der mir dieses große, unglaublich vielfältige Land wieder ein Stück näher bringt, m. E. wichtig in einer unruhigen Zeit, in der die USA nur aus politischem, nicht aber aus kulturellem Blickwinkel und ohne Kenntnis der zahlreichen Naturwunder gesehen werden. Manni
Oh, vielen Dank für die Blumen. Und den guten Kaffee nicht zu vergessen.