Das Mauritshuis in Den Haag wird in diesem Jahr 200 Jahre alt. Das Haus besitzt mit Vermeers „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ ein Zugpferd von internationalem Rang. Doch mit Prinz Johan Maurits hat es auch einen problematischen Namenspaten, der in den Handel mit Sklaven verwickelt war.
Die Literatur hat sich als kostspielig für das Mauritshuis in Den Haag erwiesen. Nachdem der Roman „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Tracy Chevalier zum Bestseller und die Verfilmung mit Scarlett Johannsen zum Blockbuster geworden sind, wurde das Museum geradezu belagert. Für Johannes Vermeers Gemälde war schnell das unbeholfene Attribut „Mona Lisa des Nordens“ geboren. Und die beschauliche Gemäldegalerie war dem Andrang nicht mehr gewachsen.
Also hat der niederländische Staat kurzerhand beschlossen, das Mauritshuis in Den Haag um einen – längst überfälligen – Erweiterungsbau zu ergänzen. Eine Entscheidung, die sich als goldrichtig erwiesen hat, denn zwischenzeitlich war eine zweite Welle weltweiter Zuneigung angerollt. Grund war diesmal Donna Tartts Roman „The Goldfinch“ („Der Distelfink“) der Grund, ein Roman, für den die Autorin den Pulitzer Prize erhalten hat. Wieder steht ein Gemälde im Mittelpunkt des Plots, diesmal ist es eines von Carel Fabritius. Und wieder hängt es im Mauritshuis in Den Haag.
Kunst aus dem Goldenen Jahrhundert
Ein leitender Kurator des Museum konnte sich vor einigen Jahren nicht erklären, warum die Schriftsteller von heute die Gemälde von einst zu Protagonisten ihrer Romane erheben. Kunstwerke, die zur königlichen Sammlung der Niederlande gehören. Doch der leitende Kurator ist kein leidender Kurator. Er nimmt es gerne in Kauf, dass sich dieses ungewöhnliche Museum in der Publikumsgunst heute fast auf Augenhöhe mit dem Rijksmuseum in Amsterdam befindet.
Am 27. Juni 2014 war das Mauritshuis in Den Haag nach zweijähriger Umbauzeit von König Willem Alexander für die Zukunft gerüstet. Auch damals wussten die Verantwortlichen natürlich, dass 2022 der 200. Jahrestag der Eröffnung kommen würde. Abermals ein Grund, warum die Aufmerksamkeit der Kunstwelt und des internationalen Publikums auf das Mauritshuis gerichtet ist. Auf eine Sammlung von nur 800 Gemälden, die überwiegend aus dem Goldenen Jahrhundert stammen.
Das Mauritshaus in Den Haag: Wohnsitz des Mädchen mit dem Perlenohrring
Die Epoche vermochte bis vor wenigen Jahrzehnten allenfalls weltfremde Kunsthistoriker in Ekstase zu versetzen. Doch mittlerweile sind deren Hauptdarsteller zu spätberufenen Popstars avanciert. Allen voran Jan (oder Johannes) Vermeer, dessen Mädchen mit dem Perlenohrring plötzlich jeder einmal im Leben gesehen haben möchte.
Die Neugier der Reisenden fällt in eine Zeit, in der Den Haag selbst eine zunächst langsam einsetzende und dann immer rasanter werdende Metamorphose abgeschlossen hat. Die mit knapp 550 000 Einwohnern drittgrößte Stadt der Niederlande besaß lange Zeit die Aura eines großen, bürgerlichen Beamtendorfs. Sie ist Sitz der niederländischen Regierung und des Königshauses. Als solche galt sie stets als ziemlich gediegen und ein wenig verschlafen.
Eine Großstadt an der Küste
Doch Den Haag ist begünstigt von seiner Lage direkt an der Nordseeküste, und es ist gesegnet mit langen Sandstränden und weitläufigen Dünenlandschaften. Rein städtebaulich setzte schon in den 90er Jahren ein Wandel ein. Stand Den Haag früher für seine vornehmen Wohngegenden mit Patrizierhäusern und palastartige Residenzen, so machte die räumliche Beengtheit der Randstad den Vertikalbau erforderlich.
s’Gravenhage, so die ausgeschriebene Variante, erhielt eine Skyline aus Wolkenkratzern, die mit den Formen der klassischen niederländischen Baukunst spielt. In den vergangenen zehn Jahren hat sich zudem eine neue Lebensfreude manifestiert – mit coolen Restaurants, Galerien und individuell geführten Geschäften.
Den Haag ist richtig „gezellig“
Das Prins Hendrikplein, die Dunne Bierkade oder der Zuidwal sind zum Inbegriff der typisch holländischen „gezelligheid“ geworden: Hier sitzt man draußen, trinkt ein Glas Wein, man erzählt und schaut sich an, wer sonst noch so unterwegs ist. Sei es die Politprominenz, die hier nach landestypischer Sitte auf dem Fahrrad unterwegs ist. Oder die Touristen, die über ein entspanntes Flair staunen, wie es das überlaufene Amsterdam kaum noch besitzt.
All das scheint Den Haag dazu zu beflügeln, dem Mädchen mit dem Perlenohrring und den anderen Prominenten Werken in 2022 ein großes Entree zu bereiten. Mehrere Ausstellungen feiern das Mauritshuis und seine Sammlung, darunter noch bis Juni eine über ein niederländisches Paradethema: Blumen. Besucher erfahren unter anderem, was es mit Bildersprache und Symbolik der im Goldenen Zeitalter so allgegenwärtigen Stillleben auf sich hat. Ab dem 1. Juni wirft die Ausstellung „Flash | Back“ einen Blick darauf, wie zeitgenössische Fotografen die Malerei des 17. Jahrhunderts wahrnehmen.
Prinz Johan Maurits ist ein problematischer Namenspate
Trotz aller guten Gründe zu Feiern, wirft der 200. Jahrestag des Eröffnung des Mauritshuis in Den Haag auch Fragen auf. Schließlich ist Prinz Johan Maurits Namenspate des Museums – und wir schreiben das Jahr 2022. Das bedeutet konkret, dass die Kolonialgeschichte auch in den Niederlanden nicht mehr nur als ruhmreiche Epoche gesehen wird. So ist die Sichtweise Geschichte, dass die Niederländische Ostindien-Kompagnie (VOC) in erster Linie eine erfolgreiche Handelsgesellschaft war.
Viel mehr gilt das Unternehmen, das lange als »erste Aktiengesellschaft der Welt« beschrieben wurde, nunmehr als dunkler Fleck in der Historie des Landes. Die Frage, inwieweit sich die Niederländische Ostindien-Kompagnie der Sklaverei, der Ausbeutung und des Massenmords schuldig gemacht hat, ist in den Niederlanden des Jahres 2022 sehr aktuell.
Sklaverei im Mauritshuis
Auch Prins Johan Maurits van Nassau-Siegen (1604-1679, deutsch: Johann Moritz), wie sein voller Name lautete, war in solche Aktivitäten verwickelt. An dieser Erkenntnis kann eine Auswertung der Fakten heute nicht mehr vorbeiführen. Konkret war Johan Maurits von 1636 bis 1644 Generalgouverneur der Niederländischen Westindien-Kompanie in Brasilien. Lange Zeit wurde er (nicht nur in den Niederlanden) dafür gefeiert, dass er die Kolonie profitabel gemacht hat. Auch wird ihm das zugeschrieben, was man heute als „die Wirtschaft ans Laufen bringen“ bezeichnen würde.
Von seinen enormen Reichtümern finanzierte er später jenen klassizistischen Prunkbau, in dem sich heute das nach ihm benannte Museum befindet. Seit 1822 beherbergt das Mauritshuis die Königliche Gemäldegalerie der Niederlande. Doch erst 2019 wurde dort eine Ecke eingerichtet, in der das Haus unter anderem darüber aufklärt, dass Johan Maurits in Sklaverei verwickelt war. So hat er unter anderem ein Geschenk der Herrscher des Kongo angenommen, das aus 200 Sklaven im Wert von drei Jahresgehältern (!) bestand. Diese hat Maurits offenbar weiterverkauft.
Maurits canceln?
Da wir uns im Jahr 2022 befinden, wurde kürzlich auch die Forderung nach einer Umbenennung des Hauses laut. Dies aber hat Direktorin Martine Gosselink abgelehnt. Maurits sei nun einmal der Auftraggeber des Gebäudes, daran könne auch eine veränderte Wahrnehmung der Geschichte nichts ändern. Maurits also wird nicht gecancelt. Wohl aber könnte man sagen, dass er verbal vom Sockel gestoßen wurde. Oder, geschönt ausgedrückt: In der permanenten Ausstellung des Mauritshuis in Den Haag wurde seine Biografie vervollständigt.
Das Mädchen und der Merchandise
Im Jahr des Museumsjubiläums sind auch dem Distelfink von Fabricius und dem Stier von Paulus Potter Nebenrollen vorbehalten, der über Jahrzehnte hinweg die stolze Hauptsehenswürdigkeit des Mauritshuis war. Unumstrittener Star aber ist das Mädchen mit dem Perlenohrring, dessen Konterfei im Giftshop auf Pfefferminzdosen, Trinkflaschen und Kofferanhängern zu sehen ist.
Auch auf der Innenseite von Regenschirmen, auf Servietten und natürlich auf Kühlschrankmagneten schaut sie kokett in die Gegend. Wer möchte, kann Vermeers Kreation auch in Form eines Quietscheentchens erwerben. Auch das ist 2022.
Sehnsucht nach Unvollkommenheit
Doch sind Romane und Filme wirklich der Hauptgrund für die Popularität der Kunst des 17. Jahrhunderts? Vielleicht, denn ihr Erfolg geht stets auf dasselbe Phänomen zurück. Die Makellosigkeit der von Photoshop auf Perfektion getrimmten Gegenwart und der ununterbrochene Informationsstrom des Digitalzeitalters wecken scheinbar Sehnsucht nach Unvollkommenheit und Freiräumen für die Phantasie.
Die Abbildung gottesfürchtiger Lebensformen vergangener Zeiten, symbolbeladene Stillleben, die Darstellung enigmatischer Rituale, präindustrielle Stadtansichten ohne Luftverschmutzung und der Versuch, ohne Kamera das Aussehen von Menschen für die Nachwelt zu erhalten – all das bewirkt eine wohltuende Distanz zur Reizüberflutung der Gegenwart.
Das Mauritshuis verfügt in dieser Hinsicht über eine formidable Sammlung von Exponaten, die darüber hinaus meisterhaft restauriert sind.
Informationen über das Mauritshuis in Den Haag
Das Mauritshuis in Den Haag ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, montags erst ab 13 Uhr. Der Eintritt kostet 17,50 Euro, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren müssen im Mauritshuis in Den Haag keinen Eintritt zahlen.
Text & Bilder Ralf Johnen, 24. Juni 2014. Die Reise wurde von Den Haag Marketing und dem Niederländischen Büro für Tourismus & Convention unterstützt.
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