Wer einen Trip nach Cincinnati unternimmt, stößt vor Ort auf eine Brauerei namens Rhinegeist. Zum wichtigsten Markt führt die Essen Straße. Und ganze Viertel tragen Namen wie Over the Rhine oder Mutter Gottes. Willkommen in einer stark von deutschen Einwanderern geprägten Stadt.
Wir schreiben das Jahr 1850, als ein von Armut und politischen Unruhen gebeuteltes Deutschland Schauplatz von Kampagnen war, die zur Auswanderung in die USA animieren sollten.
Die Wortführer versprachen eine goldene Zukunft am Ohio River, einem mächtigen Fluss, der in den Mississippi mündet, und dessen hügelige Ufer mit etwas Fantasie Erinnerungen an das bedeutendste Gewässer der Heimat hervorriefen. Ohne Burgen und Weinstöcke zwar, dafür aber mit viel Entwicklungspotential.
Cincinnati war einst die fünftgrößte Stadt der USA
Wie Craig Manness berichtet, war Cincinnati damals die fünftgrößte Stadt Nordamerikas. Nur New York City, Boston, Philadelphia und Charleston zählten mehr Einwohner. Bald, so der Stadtführer, sollte der Miami-Erie-Kanal „Cincy“ noch weiter nach vorne bringen. Quer durch Ohio verband die Wasserstraße den Ohio River über 441 Kilometer mit dem Lake Erie – und von dort aus mit dem Atlantik.
Viele Deutsche folgten dem Lockruf. Wann immer die Expats der ersten Stunde den nur 15 Meter breiten Kanal überquert haben, ließen sie ihrem Heimweh freien Lauf: Sie gingen „over the Rhine“, ein Ausspruch, der erst zum geflügelten Wort und dann zum Namen eines nördlich der Innenstadt gelegenen Viertels wurde. Laut Manness lebten hier zeitweise 45 000 Menschen. Nur Manhattan war dichter besiedelt als OTR, wie man heute sagt.
Trip nach Cincinnati: Deutsche Wurzeln
Anders als in weiten Teilen der USA haben die beiden Weltkriege in Cincinnati nicht dazu geführt, dass Hinweise auf deutsche Wurzeln aus dem Straßenbild radiert wurden. Schützenfeste und Gesangsvereine etwa existieren bis heute. Der Miami-Erie-Kanal hingegen war weniger standhaft. Er konnte die Erwartungen nie erfüllen und wurde wieder zugeschüttet.
Schlimmer noch: Weil Cincinnati nur in Wasserstraßen investiert hatte, führten die Bahnlinien an der Stadt vorbei, als die Frontier weiter in Richtung Westen vorrückte. Von den Ambitionen der stolzen „Queen of the West“ blieb wenig übrig.
Auch mit OTR ist es bergab gegangen. Ab den 1950er Jahren ist das Viertel immer weiter verfallen, um schließlich zu einer No-go-area zu werden. Erst in den 90ern hat sich eine Renaissance angebahnt. Damals hat ein lokaler Visionär namens Chris Thompson die ehemalige Brauerei des deutschstämmigen John Kauffman erworben und den mit Beton zugegossenen Eingang zu einem stattlichen Gewölbekeller freigelegt. Heute befinden sich im Erdgeschoss Kunstwerke und in den oberen Etagen Lofts. Der Anfang der Wiederbelebung des Viertels war gemacht.
Typisch Amerika: der Italianite Style
Mittlerweile hat sich Over the Rhine zu einer der gefragtesten Neighborhoods Cincinnatis gemausert. Das liegt auch an knapp 900 charakteristischen Häusern eines bestimmten Baustils. Sie sind aus Backstein errichtet, ziemlich schmal, meist drei bis vier Geschosse hoch und mit Feuertreppen ausgestattet, wie sie auch aus New York bekannt sind. Es ist der Italianite Style, der kurioserweise nicht auf Architekten aus Italien zurückgeht, sondern den die Briten kultiviert haben.
Viele der Bauten sind rund um Findlay Market gruppiert, der seit 1852 ununterbrochen in Betrieb ist. Sie sind prächtig restauriert, in fröhlichen Farben gestrichen und dienen häufig als Kulisse für Filme, die eigentlich im Big Apple spielen. Doch der Markt und die umliegenden Bauten sind mehr als nur ein Szenenbild: In den Erdgeschossen haben sich kleine Boutiquen für Tee, Americana und Delikatessen angesiedelt.
Der Ohio River als Grenze zum Leben in Freiheit
Wer über die Essen Straße die Markthalle betritt, fühlt sich unweigerlich an den Mittelmeerraum erinnert – mit leichten Unterschieden beim Sortiment.
Traditionelle Food-Stände bieten eine Spezialität an, die es ausschließlich in der Region um Cincinnati gibt: Goetta, eine schmackhafte Melange aus Maisbrei, Fleisch und Gewürzen, die ebenfalls deutscher Herkunft ist. In Westfalen ist sie als Stippgrütze oder Wurstebrei bekannt. Dort mag die Armeleutespeise als Fall fürs Kulinarik-Museum gelten, in Cincinnati aber ist sie allgegenwärtig.
Trotz der weithin sichtbaren Wurzeln waren keineswegs nur deutsche Einwanderer für das Wachstum Cincinnatis verantwortlich. Schon vor der Immigrationswelle war die Stadt Schauplatz einer Massenflucht, denn sie ist nördlich des Ohio River im gleichnamigen Bundesstaat gelegen. Das Südufer hingegen gehört zu Kentucky und somit zu den Südstaaten.
Ein Muss beim Trip nach Cincinnati: Underground Railroad
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. haben Zehntausende geflüchtete Sklaven den Fluss überquert, um Zwangsarbeit und Demütigung zu entkommen. So ist der Mythos von der Underground Railroad entstanden, den Colson Whitehead in seinem gleichnamigen Roman beschreibt und den man sich als eine Art Schleusernetzwerk vorzustellen hat.
Wie das mit Blick auf den Fluss am Ohio River gelegene National Underground Railroad Freedom Center auf ergreifende Weise veranschaulicht, sah die Realität auch im Falle einer gelungenen Flucht wenig rosig aus: Ehemalige Sklaven wurden in Ohio geächtet und nur in Ausnahmefällen mit vollen Bürgerrechten ausgestattet.
Die John A. Roebling Suspension Bridge: Vorläufer der Brooklyn Bridge
Kurz nach Ende des Civil War und der damit einhergehenden Abschaffung der Sklaverei wäre die Flucht aus Kentucky auch zu Fuß möglich gewesen, denn nach zehnjähriger Bauzeit wurde am 1. Dezember 1866 die John A. Roebling Suspension Bridge eröffnet. Die Brücke ist nach einem Ingenieur benannt, der in Thüringen als Johann August Röbling zur Welt gekommenen ist.
Für eine Weile war sie damals die längste Hängebrücke des Planeten, und, wichtiger noch, der Prototyp der 1883 eröffneten und deutlich größeren Brooklyn Bridge, mit der Roebling Architekturgeschichte geschrieben hat.
Ausflug ins Bourbonland nach Covington, Kentucky
Heute ist das imposante Bauwerk als Singing Bridge bekannt, denn sie ist nicht mit einer Asphaltdecke, sondern mit einem durchsichtigen Gitter aus himmelblau gestrichenem Eisen ausgelegt. Dessen Schwingungen geben melodische Geräusche von sich, sobald Autos darauf fahren. Entgegen der sonst in den USA üblichen Gepflogenheiten sind in zunehmendem Maße auch Fußgänger und Radfahrer auf der Brücke unterwegs, die es nach Covington zieht.
Der Ort hat durch Roeblings Bauwerk einen Schub erhalten und ein bis heute lebendiges Stadtviertel namens Mutter Gottes belegt, dass die Deutschen bald auch diesen Fluss zu überqueren wussten.
Flanieren auf der Main Strasse
Heute ist Covington eine lebenswerte Kleinstadt mit Vintage Stores, guten Restaurants und einer „Main Strasse“. Dass es sich auf dem Territorium des Bourbon-Staates Kentucky befindet, macht sich bald bemerkbar. Bei Wenzel Whiskey etwa können sich Liebhaber aus dem Inhalt Dutzender Fässer verschiedener Herkunft ihren eigenen Blend zusammenstellen, der anschließend etikettiert und versiegelt wird.
Das Restaurant Lisse, das nicht von deutschen, sondern von niederländischen Auswanderern betrieben wird, serviert ein vorzügliches Menü mit Cocktailbegleitung auf Bourbon-Basis. Vielleicht am originellsten ist der Revival Vintage Bottle Shop, dessen Betreiber jahrzehntealte Spirituosen für Preise ab 500 Dollar aufwärts zum Verkauf anbieten.
Ein Vintage Liquor Store in Covington
Verkosten aber kann man viele seltene Tropfen vor Ort bereits ab fünf Dollar. In Covington also lässt es sich leben. Ein weiterer Vorteil: Cincinnati und das am Nordufer gelegene Stadion sind zum Greifen nah. Zu Spielen der Bengals oder Konzerten von Stars wie Taylor Swift gehen die Locals auch in diese Richtung einfach zu Fuß.
Doch das junge Cincy hat noch mehr zu bieten. Den Smale Riverfront Park etwa, oder das von Zaha Hadid entworfene Contemporary Arts Center.
Das grandiose American Sign Museum in Cincinnati
Absolutes Highlight ist das American Sign Museum. Besucher können hier Hunderte Exponate bewundern – darunter eine McDonald’s-Reklame von 1963, die auf Hamburger aufmerksam macht. Zum Stückpreis von 15 Cent.
Auch im Vintage-Design gestaltete Motelschilder und originelle Weltraummotive als Werbung für längst verblichene Unternehmen gehören zur Sammlung.
So wird das als amerikanische Ikone unumstrittene Neonschild endlich als eigenständige Kunstform geadelt, die in aller Regel noch dazu den Glauben an eine bessere Zukunft vermittelt.
Willkommen in der Rhinegeist Brewery
Seinen Optimismus scheint auch Cincinnati zurückgefunden zu haben. Seit Kurzem wächst die Stadt (310 000 Einwohner, Metroarea 2,2 Mio.) wieder. Sogar die Kombination aus Bier und deutscher Sprache ist zurück: der angesagteste Laden der Stadt ist die Rhinegeist Brewery. Sie ist in einem ehemaligen Lagerhaus untergebracht und verfügt über eine reizvolle Dachterrasse – mit Blick auf Over the Rhine und den Ohio River.
Weitere Informationen zum Trip nach Cincinnati
Anreise: British Airways hat im Sommer 2023 erstmals einen Nonstopflug von London nach Cincinnati angeboten. Sonst mit Umstieg z.B. über Newark.
Cincinnati, Covington und Umgebung haben genug für drei bis vier Tage zu bieten. Für den Aufenthalt ist ein Mietwagen ratsam, aber nicht unbedingt erforderlich.
Attraktionen in Cincinnati
Findlay Market Food Tour, cincinnatifoodtours.com
Diverse Stadtführungen bei americanlegacytours.com
Übernachtung beim Trip nach Cincinnati
Hotel Covington, hotelcovington.com, sehr angenehme Unterkunft auf der Kentucky-Seite, Downtown ist zu Fuß oder per Uber erreichbar
Essen und Trinken
Rhinegeist Brewery, rhinegeist.com
Restaurant Lisse, lisse.restaurant
Wenzel Whiskey, wenzelwhiskey.com
Revival Vintage Bottle Shop, revivalky.com
Allgemeine Information über Cincinnati und Umgebung
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Wie immer ein die Reise- und Genußlust stark anregender Reisebericht, wie immer fesselnd beschrieben und fotografiert. Mein USA-Bild ändert sich ständig, danke…