Miami ist für mich eine der spannendsten Städte der Welt. Aus dem Nichts ist innerhalb von 100 Jahren eine Metropole mit rund sechs Millionen Einwohnern geworden. Erst dachte ich, die Milliarden reicher Amerikaner und Südamerikaner würden ausschließlich zu Wolkenkratzern umgewandelt. Später habe ich entdeckt, dass der Großraum neben mehreren Ensembles glamouröser Häuser auch eine lebendige Avantgarde besitzt. Danach habe ich in Little Havana Roberto Ramos getroffen – und seine unglaubliche Geschichte gehört.
Roberto Ramos ist vor den Kommunisten nach Florida geflohen. Bei diesem Abenteuer stand einiges auf dem Spiel, doch mit viel Glück konnte der heute 52-Jährige dem Schicksal ein Schnippchen schlagen. Heute gehört er zu den erfolgreichsten Bewohnern von Little Havana.
Der Gang zu seiner Mutter war das schwierigste an dem ganzen Plan. Doch Roberto Ramos wusste, dass er daran nicht vorbeikommen würde. Er war entschlossen, sein zu Leben zu ändern. Also beichtete er ihr an einem Tag im Jahr 1992: »Ich habe schlechte und sehr schlechte Nachrichten für Dich. Ich werde mit dem Boot nach Amerika fliehen. Und ich nehme zwei meiner Brüder mit.«
Noch am selben Tag sind die drei Ramos-Brüder an der kubanischen Nordküste in See gestochen. Auf einem Holzboot aus dem Jahr 1956, dem die Mutter die Hochseetauglichkeit abgesprochen hatte. Nach drei Tagen hatten sie ihr Ziel, Key West oder einen anderen Abschnitt der Küste Floridas, noch immer nicht erreicht. Es sah nicht gut aus: „Wir hatten kein Trinkwasser und kein Essen mehr“, erinnert sich der 1965 geborene Ramos. „Und als wir dann noch in schwere See geraten sind, war auch der Sprit bald alle.“
Küstenwache kommt zur Rettung
Innerlich hatte Ramos zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinem Leben abgeschlossen. Bei dem Versuch, den verhassten Kommunisten zu entkommen, hatte er alles gewagt – und schon fast alles verloren. Dann aber kam die US-Küstenwache. Draußen, auf hoher See. Ein kleines Wunder. Ramos und seine Brüder waren erleichtert. Von den Grenzbeamten wurden sie über etwas aufgeklärt, das sie vorher nicht kannten: Rechte. Wenn er davon erzählt, bekommt Roberto Ramos auch 23 Jahre danach noch feuchte Augen.
Allerdings hatte er nun ein ganz anderes Problem. Zwar wollte die Coast Guard die drei Brüder aus Havanna an Bord ihres viel größeren Schiffes holen, das altersschwache Boot aus Kuba aber mussten sie versenken. So lautete die Vorschrift. Doch das kam für Ramos nicht in Frage. Er hatte wertvolle Fracht an Bord: Kunst. Eine Gemäldesammlung, um genau zu sein.
Ramos flehte die Amerikaner an, die zunächst ihren Ohren nicht trauten. Es handele sich um einzigartige Schätze, sagte er. Werke aus der Zeit vor der Machtübernahme Fidel Castros, aus einer Epoche, von der auf der Karibikinsel ohnehin nicht mehr viel übrig sei. Die gemeinhin humorlosen US-Beamten ließen sich trotz des Sturms erweichen und nahmen Funkkontakt zu ihrem Vorgesetzten auf. Zur Überraschung aller genehmigte dieser eine Ausnahme. Das Boot wurde nach Miami geschleppt und die Sammlung Ramos war gerettet.
Galerie in der Calle Ocho
Heute umfasst sie rund 300 Bilder von knapp 40 Künstlern, die alle dasselbe Schicksal teilen: Sie sind bei den Kommunisten in Ungnade gefallen. Im Gegenzug wurden sie aus der kubanischen Geschichte gestrichen. Ausgestellt sind ihre Werke nun im Cubaocho, einem liebenswerten Kulturzentrum mit Bar, Salon, Bühne und Galerie, das zugleich so etwas wie der gesellschaftliche Mittelpunkt von Little Havana ist. Schräg gegenüber befindet sich »Domino Park«, der so oft abgelichtete Platz, auf dem zigarrenrauchende Senioren und Seniorinnen Brettspiele jeder Art zelebrieren. Vorzugsweise eine Variation des Domino, bei dem die Steine neun anstelle von sechs Augen haben.
Zwischendrin breitet sich die Calle Ocho aus, die inoffizielle Hauptstraße der kubanischen Exklave. Noch brettern Autos hier mit 35 Meilen pro Stunde hindurch, doch werden die Stimmen lauter, dass die Geschwindigkeit hier deutlich reduziert, oder noch besser, die Straße komplett gesperrt werden muss. Schließlich ist zwischen der 11. und 18. Avenue etwas Einzigartiges entstanden: Der Little Havana Art District mit Galerien, Restaurants, Bars und Geschäften.
Roberto Ramos ist heute Präsident des Cubaocho, das er selbst ins Leben gerufen hat. Aus dem mittellosen jungen Mann ohne Perspektive ist ein arrivierter Kunstkenner und erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Das überrascht niemanden mehr als ihn selbst, denn mit beidem hatte er ursprünglich nicht viel am Hut. Doch nach der Geschichte, die sich um sein erstes eigenes Gemälde entwickelt hat, gab es für ihn kein Zurück mehr.
Kubanische Kunst statt Geld
Das ging ungefähr so: 1982 hatte Ramos einem älteren Mann beim Umzug geholfen. Dieser hatte kein Geld, womit er ihn hätte entlohnen können. Dafür aber hat er ihm ein Kunstwerk vermacht, das er als sehr wertvoll angepriesen hat »Der Saxophonspieler« von einem gewissen Carlos Sobrino. Der damals 17-Jährige wollte natürlich prüfen, was es damit auf sich hatte. Doch in den Museen des Landes fand er keine Werke von einem Maler namens Sobrino. Erst nach aufwendiger Recherche in der Nationalbibliothek löste sich das Rätsel: Es hatte diesen Künstler wirklich gegeben. Ja, noch 1959, als Fidel Castro die Macht übernommen hatte, war er mit dem nationalen Kunstpreis ausgezeichnet worden. Dann aber war er ins Exil gegangen. Es war eine Flucht vor den Kommunisten.
In der Folge, erzählt Ramos, ist Sobrino auf Kuba zur Persona non grata erklärt worden. Das bedeutete gemäß der üblichen Praxis der neuen Machthaber, dass alle seine Spuren verwischt und seine Existenz geleugnet wurde. Wie der neugierige Gemäldebesitzer zu seiner Erschütterung feststellen musste, war Sobrino alles andere als ein Einzelfall. Viel mehr wurden alle Nichtkommunisten und somit ein erheblicher Teil des kulturellen Erbes einfach ausradiert.
Spätestens jetzt stand für Ramos fest, dass er sein Leben nicht in diesem Land verbringen wolle. Gleichzeitig verstand er es als seine Pflicht, so viele Kunstwerke wie möglich vor dem Zugriff der Kommunisten zu retten. Also begann er damit, die vielleicht größte Sammlung kubanischer Kunst aus den Jahren von 1850 bis 1950 aufzubauen. Der Rest ist Geschichte.
Eine Sammlung geht von Little Havana aus um die Welt
Wenn die Bilder heute nicht im Cubaocho hängen, sind sie wieder einmal auf Tournee. Die Sammlung Ramos nämlich war bereits in diversen Museen innerhalb der USA sowie in Oviedo (Spanien) und Paris zu sehen. Auch ist sie in einem dicken Buch katalogisiert. Damit aber mag er sich nicht begnügen, denn Ramos ist auch ein Träumer: »Ich möchte die Bilder dahin zurückbringen, wo sie hingehören. Nach Kuba. Wenigstens einmal.«
Ob ihm das jemals gelingen wird, wagt er jedoch zu bezweifeln – im politischen Klima der Gegenwart mehr denn je. Denn wie so viele seiner Landsleute in Little Havana hat er die alte Heimat mehr oder weniger aufgegeben. Zurückkehren möchte er auf keinen Fall. Fidel Castro und Konsorten haben Kuba auf absehbare Zeit zerstört, führt er zur Begründung an. Und selbst wenn eines Tages ein Demokratisierungsprozess einsetzen sollte, werde der Inselstaat ihm auf absehbare Zeit nicht die Freiheiten Little Havanas bieten.
Romantische Gefühle für Kuba hegt Roberto Ramos also nicht. Damit ist er kein Einzelfall, auch wenn Little Havana alles andere als das Idealbild des Amerikanischen Traums ist: Der südwestlich von Downtown mit Blick auf das boomende Finanzviertel Brickell gelegene Stadtteil hat etwas mehr als 50 000 Einwohner. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen erreicht mit geschätzten 25 000 $ nur die Hälfte des Durchschnitts in Florida. Entsprechend unglamourös sieht es abseits der zentralen Blocks der Calle Ocho aus: Flachbauten und Brachflächen wechseln sich ab. Nur wenig erinnert an den Zauber Havannas – sei dieser auch noch so verklärt.
Nichts ist so viel wert wie die Freiheit
Den meisten Kubanern, sagt Ramos, denen gehe es bis heute nicht um materielle Dinge. Sie wollen das, was ihn selbst so glücklich gemacht: »Die Freiheit.« Gleichzeitig aber kommt auch er nicht um die Erkenntnis herum, dass eine jüngere Generation erstaunlichen Geschäftssinn entwickelt hat. Sie stellen Zigarren oder Rum her, sie verdingen sich als Gastronomen oder Galeristen. »Vielleicht«, sagt Ramos dann, »kann Little Havana ja irgendwann so etwas werden wie eine Schaltstelle zwischen beiden Welten.«
So wie Miami immer mehr zum Bindeglied zwischen Nord- und Südamerika wird – fast alle Geschäfte zwischen beiden Kontinenten werden hier getätigt. Unabhängig von diesen Überlegungen, so Ramos, fühlen sich die Exilkubaner nämlich schon jetzt, als würden sie in einer Art Underground-Hauptstadt Kubas leben. Seine Mutter übrigens muss der Mann, der noch immer viel lieber Spanisch als Englisch spricht, nicht mehr missen. Sie durfte ausreisen. Zu ihren Söhnen. Ein Happy End mit Seltenheitswert.
Ganz abgesehen von dieser wunderbaren Geschichte ist Little Havana grandios. Wer in Südflorida ist, sollte unbedingt hinfahren!
Informationen
Cubaocho: 1465 SW 8th Street, Miami, www.cubaocho.com
Wer in Little Havana ist, sollte auch eine Food Tour durch die authentischen Einwandererlokale der ersten Generation in Erwägung ziehen. Sie kostet 59 $ und kann hier gebucht werden.
Text und Bilder: Ralf Johnen, Dezember 2017.
Die Geschichte ist in einer ähnlichen Version in meinem Buch »Merian Momente Florida« erschienen. Meine Reise wurde unterstütz von Visit Miami und Visit Florida, mit vielen Dank an Anja Kocherscheidt und Manuel Kalleder für ihr persönliches Engagement.
4 Comments
Großartiger Bericht über Menschen und eindrucksvolle Fotos von ihrem Leben…trotz aller Hindernisse, die verwirrte Politiker aufgebaut haben. Manni.
Danke. Ja, es handelt sich um echte Charaktere!
Danke für diesen etwas anderen „Reisebericht“ zu Little Havanna. Ich war, so muss ich jetzt sagen, leider nur Abends mal da und fand es total überbewertet. Genau die Besonderheiten, die in Deinem Artikel so gut rauskommen, habe ich vermisst bzw. nicht gesehen. Dein Artikel wirft aber nochmal ein ganz anderes Licht darauf. Toll!
Danke Dir, Janine. Little Havana ist schon ziemlich cool – aber damit sich die Reize voll erschließen, müssen ein paar Sachen zusammenfallen.