Dies hier ist ein Plädoyer für meine heimliche Lieblingsstadt in Deutschland: Hamburg. Trotz der Elbphilharmonie.
Neulich habe ich mich bei einer Aussage ertappt, die mir im Nachhinein merkwürdig vorkam. Jemand hat mich nach meiner Lieblingsstadt in Deutschland gefragt. Und ich habe geantwortet: »K, K, K … Hamburg. Wie konnte es dazu kommen? Als halber Rheinländer und halber Niederländer (die Reihenfolge ist nicht so wichtig) war mir der Norden lange ziemlich egal. Es gab keinen Grund dorthin zu fahren. Amsterdam und Rotterdam waren ja näher.
Lieblingsstadt Hamburg: Auf freundliche Weise ruppig
Natürlich hatte ich immer wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass all meine Lieblingsbands nicht nur in Köln, sondern auch in Hamburg aufgetreten sind. In der Markthalle, im Uebel & Gefährlich, im Gruenspan oder auch im Knust. Doch so richtig ist mein Interesse an Hamburg erst gewachsen, als eine andere Stadt in Deutschland sich unmöglich zu machen begonnen hatte. Ihr wisst schon, die wo sich jeder so unfassbar geil und hip findet, dass es kracht. Aber das ist eine andere Geschichte.
Hamburg dagegen war auf freundliche Weise ruppig zu mir, wenn ich dort war. Das aber war derart selten der Fall, dass ich die Stadt immer noch als Tourist wahrnehmen kann. So wie zuletzt an einem sonnigen Winterwochenende etwa drei Monate bevor ich mich erstmals bei der eingangs erwähnten Aussage ertappt habe.
Check-in am Fischmarkt
Zum Akklimatisieren steuern wir nach der Ankunft am Bahnhof Altona und dem Check-in am Fischmarkt die Hans-Albers-Klause an. Hier lassen wir uns zum Einbruch der Dunkelheit (also am gar nicht so späten Nachmittag) nieder, um ein herbes hopfenhaltiges Getränk zu konsumieren. Unter Fischernetzen. Wie es sich gehört.
Der Nieselregen hält sich heute in Grenzen, der notorische Nordwestwind ist kaum wahrnehmbar. Einem Spaziergang an der Elbe steht also wenig im Wege. Unser Ziel ist das Restaurant mit dem aparten Namen Ti Breizh, wo das in geringelten Oberteilen gehüllte Personal nach Kräften darum bemüht ist, alle unangemeldeten Gäste an Tischen zu platzieren.
Oh, St. Pauli
Wir haben Glück, verkosten Fischsuppe mit gelungener Cidre-Begleitung und Buchweizen-Galettes mit Roquefort und Birne. Nach 60 Minuten aber kommen die rechtmäßigen Besitzer des Tisches. Also steigen wir in die Hochbahn nach St. Pauli, wo ich mich zunächst vergewissern muss, ob die Straßen immer noch ihre bizarren Namen tragen.
»Schulterblatt« und »Beim Grünen Jäger« sind zu meiner Freude noch da. Ebenso wie die Rote Flora, die im Netz unermüdlich die moderate Autonomenparole »Regierung stürzen. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber spätestens übermorgen« verbreitet. Beruhigt können wir den Rauchersalon im Saal II beziehen, wo wir zwischen Stammgästen mit vergilbten Macbooks einen Sprudel-Rioja-Hattrick hinlegen, ohne dabei dem Nikotinkonsum zu frönen.
Obligatorisches Fischbrötchen
Wie wir nach Hause gekommen sind, spielt in meiner heimlichen Lieblingsstadt Hamburg keine Rolle. Fest steht hingegen, dass wir tief und lange schlafen. Ich mache mich gegen Mittag auf die Suche nach dem obligatorischen Fischbrötchen und ernte verständnislose Blicke. Was ist einzuwenden gegen ein Stück großzügig panierten Seelachs?
Diesmal laufen wir in die andere Richtung: Vorbei am Stilwerk und den am Samstagmittag nur sparsam besuchten Hallen des Fischmarkts zum Altonaer Balkon. Nicht wirklich ein Geheimtipp, aber immer wieder schön. Diesmal wird die Aussicht über die Hafenkräne, die bei der Verkündung von Wirtschaftsdaten aus rätselhaften Gründen landesweit als Standardbild herhalten müssen, von großzügigem Sprühregeneinsatz begleitet. Perfektes Fotowetter.
Marktschreierische Elbphilharmonie
Spätestens als wir uns bei den Landungsbrücken Tickets für die unvermeidliche Hafenrundfahrt kaufen, merke ich wie herrlich es ist, einfach nur Tourist zu sein. An Bord der »Zukunft« werden wir zünftig zugeschnackt von einem Kapitän, der wenig Gutes an der Welt lässt. Politiker, Autonome, Architekten und Kolonialisten? Alles Verbrecher!
Lediglich der Hamburger Geist, der seinen zum mutmaßlich 43 000. Mal absolvierten Rundkurs durch Speicherstadt, Hafen-City und Docks mit unsichtbaren Kräften zusammenhält, nur dieses schwer artikulierbare Überlegenheitsgefühl eines Weltstädters also, das findet seine Gnade. Trotz der marktschreierischen Elbphilharmonie, an deren eitles Erscheinugsbild ich mich einfach nicht gewöhnen möchte.
Große Freiheit in der Lieblingsstadt Hamburg
Bei uns steigt unterdessen die Vorfreude auf den Abend, den Hauptanlass für die Neuauflage einer Tour, die wir in dieser Besetzung früher so oft unternommen haben. Mr. Robert Forster is in town – und in meinem ganz persönlichen Fall ist das gleichbedeutend mit dem ungefähr 20. Anlass für eine Reise in eine europäische Stadt. Als wir auf dem Weg zum Knust die Reeperbahn und später die Große Freiheit durchkreuzen, steigt die Ekstase trotz heftigen Dauerregens weiter. Vor allem die GF 36 hat es mir mit ihrer freizügigen Referenz an Lieblingsbands heftig angetan.
Mit sichtlicher Genugtuung stelle ich fest, dass der Ort noch nicht in der Hand der panglobalen Street-Food-Hipster ist. Hier herrscht noch Bodenständigkeit. Später am Abend (das neue Knust ist toll, Forster war grandios, aber das nur am Rande) gehen wir mit unseren ebenfalls eigens angereisten Freunden aus der Stadt, in der jeder jeden Tag um das Amt des allercoolsten Bären kämpft, ein Curry essen.
Wie? Keine Craft-Beer-Listen?
Ich wundere mich, dass das Personal keine tief ins Gesicht gezogenen Wollmützen von Carharrt trägt. Auch warten wir vergeblich auf die rituelle Verlesung einer Liste von 80 erhältlichen Craft-Bieren. Sind wir am Ende doch nicht an der Schwelle zum Jahr 2016?
Der Abend klingt aus im Eldorado, einem Souterrain-Club in St. Pauli. Psychedelische Tapeten, fachmännische Vinyl-Beschallung und ein unglücklich dreinblickender Philip-Seymour-Hoffman-Klon, der dem Nikotinkonsum frönt. Große Freiheit halt. Statt der Grünen Jäger, die Köln neuerdings fest im Griff haben.
Nieselregen auf dem Fischmarkt
Weil ich nichts gründsätzliches gegen Craft-Biere einzuwenden habe (außer ihre Namen werden verlesen), trinke ich in Hamburg vorzugsweise Produkte aus dem Hause Ratsherrn. Den langen Weg zurück zum Fischmarkt versüße ich mir mit einem würzigen Westküsten-IPA. Dort angekommen, hoffen wir (im Nieselregen) vergeblich auf den Beginn der Marktaktivitäten, noch bevor wir vom Schlaf übermannt werden.
Geweckt werden wir auf unwirsche Weise. Der Chef-Marktschreier verwendet zur Orchestrierung seiner Ansagen ein Megaphon, das direkt unter unserem Schlafzimmer befestigt ist. Und darauf erklingt die unmissverständliche Ansage, der zufolge die merkantilen Aktivitäten für den heutigen Sonntag mit sofortiger Wirkung einzustellen seien.
Viva Colonia in der Fischauktionshalle
Etwas verunsichert versuchen wir uns vom Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu überzeugen. Bald kommen wir zu der Überzeugung: Der Marktschreier leidet unter Autoritätsverlust. Zwar gibt es zu unserer Verbitterung kaum irgendwo Fisch, dafür aber allerorten billige Orangen, vor deren Kauf uns zufällig vorbeikommende Einheimische wegen des angeblich chronischen Schimmelbefalls warnen.
Da wir nicht vorhaben, uns die nahende Heimreise mit fauligen Südfrüchten zu versüßen, machen wir uns stattdessen in die Fischauktionshallen auf. Eine weise Entscheidung, denn es stellt sich bald heraus, dass das ganz gut in unsere allgemeine Stimmungslage passt: Wir bekommen Fischbrötchen. Und aus den Lautsprechern ertönen die vertrauten Akkorde von »Viva Colonia«.
Seltsame Klänge im Silbersack
Ohnehin scheint die Hamburger eine seltsame Vorliebe für kölnisches Liedgut umzutreiben. Bei meinen letzten Trip bin ich im Silbersack gestrandet. Noch so eine Hans-Albers-Kaschemme. Dort haben rauchende Rentner zu BAP getanzt. Ein Szenario, das in Köln undenkbar wäre.
Den sonnigen Sonntagmittag verbringen wir an der Elbe. So nett war lange keine Stadt zu mir.
Weitere Informationen zur Lieblingsstadt Hamburg
Schau auf die Webseite von Hamburg Tourismus – und auf die Links in dieser Geschichte.
Text und Bilder: Ralf Johnen, zuletzt aktualisiert im September 2022. Der Autor war privat vor Ort, um für das Elaborat zu recherchieren.
2 Comments
Cool geschrieben! Mir gefällt der persönliche Touch der Story! Und die Hafenrundfahrt ist auch immer eines meiner Highlights in der Hansestadt… Am liebsten bei Sonne.
Danke Dir, Brigitte. Bei einer solchen Stadt schreibt sich die Story ja fast von selbst. Stay tuned, RJO