Vor 500 Jahren brachte Martin Luther seine 95 Thesen an der Wittenberger Schlosskirche an. Damit stellte er die Welt auf den Kopf. Bald nach seinem Tod setzte an den Wirkungsstätten der Luthertourismus ein. Mit ihm kam ein ungewöhnlicher Kult um Reliquien.
»Jetzt zeige ich Ihnen noch was ganz Besonderes«, sagt Benjamin Hasselhorn. Im Luthermuseum führt der Historiker seinen Gast an eine Vitrine, in der beleuchtet unter Glas ein Stück korrodierten Metalls liegt. »Das ist ein Griff von Luthers Sarg«, sagt der Historiker. Es ist eines der plastischsten Exponate in dem Ausstellungshaus in Wittenberg. Jene Stadt also, in der der Reformator lehrte und seine letzte Ruhe fand.
Exponate wie der Sarggriff lieben die Besucher. Sie haben etwas Echtes, Authentisches, das einen direkten Draht in die Geschichte verspricht. In diesem Falle zu Luther, um den ein Reliquienkult entstand, den die protestantische Kirche im Gegensatz zur katholischen eigentlich ablehnt. »Der Reliquienkult ist nicht tot zu kriegen«, sagt Hasselhorn, und um die Person Luthers treibt er besondere Blüten.
Liegt Luther wirklich in der Schlosskirche?
Lange war noch nicht einmal ganz geklärt, ob Luther tatsächlich in der Schlosskirche zu Wittenberg begraben liegt. Hatte der Kaiser ihn doch in die Elbe werfen lassen? Denkbar. Dann aber die Gewissheit im Jahr 1892, als man bei der Restaurierung der Kirche das Grab öffnete und bauhistorisch untersuchte. Heute wundern sich vor allem Kinder über die kurze Grabplatte, unter die »doch kein Mensch passt«. Das eigentliche Grab mit den Gebeinen liege in zirka zwei Metern Tiefe. »Obenauf liegt nur der Sandsteinsockel«, klärt Stadtführerin Annett Schulz auf.
Seit Langem standen nicht mehr so viele Menschen andächtig vor Luthers Hochgrab, aber auch draußen vor der Tür, der zum Jubiläumsjahr zum ersten Mal seit 1892 gründlich renovierten und im Oktober 2016 wieder eröffneten Kirche, wartet ein starker Pilgermagnet: die bekannte Thesentür.
Die meistfotografierte Tür Deutschlands
Mitte des 19. Jahrhunderts unter den Preußen, als ein wahrer Lutherkult geherrscht habe, sei die Pforte eingesetzt worden, aus Bronze sei sie und zwei Tonnen schwer. »Es ist die wohl meistfotografierte Tür Deutschlands«, sagt die Stadtführerin. »Hier war das schwarze Brett der Uni, als Grundlage einer Disputation unter Unikollegen hat Luther die Thesen wohl auf einem Blatt oder Plakat hier angebracht.«
»Was die Leute wissen wollen ist, wie war das mit den Thesenanschlag«, sagt Historiker Hasselhorn im Lutherhaus. Lange herrschte Zweifel, ob es ihn als solchen überhaupt gegeben hat. Vor rund zehn Jahren aber sei eine Notiz von Georg Rörer, Luthers Privatsekretär, aus den 1540er Jahren aufgetaucht, in der es heißt, Luther habe vor, Thesen an die Kirchen in Wittenberg zu schlagen. Die Notiz, die »einzige aus Luthers Lebzeiten«, gelte in Fachkreisen als historischer Beleg. Zu sehen war sie 2017 in der Sonderschau »Luther! 95 Schätze – 95 Menschen«.
Luther bekam Besuch von Zar Peter
Und eine andere historische Notiz ist erhalten. Sie steht an der Holztür zur Lutherstube im Luthermuseum, dem ehemaligen Kloster Wittenbergs, das der Reformator zusammen mit seiner Frau Katharina von Bora und den gemeinsamen Kindern als Wohnhaus nutzte. Die Stube selbst wird seit 1655 Reisenden gezeigt. 1712 kam der russische Zar Peter der Große. Mit Kreide schrieb er seinen Namen an die Tür zur Lutherstube. Noch heute ist die frühe »I was here«-Notiz erhalten, heute unter Glas geschützt.
171 Jahre später, 1883, wurde das Lutherhaus zum Museum, und gab dem Reliquienkult um Luther Nahrung. »Das Holz der Lutherstube hilft besonders gut gegen Zahnschmerzen, das glaubten die Leute – und kamen«, berichtet Hasselhorn. Böden, Tische und Wände wurden immer dünner, Span um Span verschwanden sie in den Taschen der Reliquienjäger. Dem Tisch in der Lutherstube sieht man dieses Schicksal an, teilweise ist das Holz der Platte von der letzten Restaurierung noch heller als der Rest.
Ein Walknochen als Luthers Fußschemel
Von dem Tisch, an dem Luther als Junker Jörg auf der Wartburg bei Eisenach das Neue Testament übersetzte, ist gar nichts mehr übrig. Ihn raspelten Besucher der Lutherstube in der Vogtei des berühmten Pallasbaus bis zur Unkenntlichkeit. »Schließlich verbrannte man ihn irgendwann«, sagt Jutta Krauß. Die Wissenschaftliche Leiterin der Wartburg Stiftung Eisenach befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Reformator.
Original aber sei ein anderer Gegenstand, sagt sie und zeigt auf den Boden der Stube, wo ein großer Knochen liegt. »Das ist ein Walwirbel aus dem Reliquienschatz Friedrich des Weisen«, sagt Krauß. »Luther soll ihn als Fußschemel genutzt haben.« Während der heutige Tisch und der Stuhl davor Nachbildungen sind, die dem Besucher einen zeitgenössischen Eindruck vermitteln sollen, ist der hockergroße Knochen neben den Wänden das wohl Einzige, was Luther in seine Schreibstube neben den Wänden je selbst berührt hat. Das bekannte Septembertestament von 1522 existiert noch im Original.
Luther-Schokolade und Luther-Kaffee
Auch das Merchandising, für manch einen ein funktionaler Ersatz für Reliquien, treibt im Jubiläumsjahr skurrile Blüten. Bei den Luther-Souvenirs handelt sich zwar nicht um materielle Überreste. Doch die 95 Thesen, gedruckt auf Plakate in mehreren Sprachen, zu erwerben in der Schlosskirche – sie gebe es nicht ohne den Mut des Reformators.
Andere kommerzielle Auswüchse haben dagegen keinen historischen Hintergrund. »Luther-Schokolade« oder »Luther-Kaffee«, wie in Schaufenstern auf der Collegienstraße zwischen Schlosskirche und Lutherhaus in Wittenberg feil geboten, tragen nur den Namen des Reformators. »Es gab zu Luthers Zeiten noch gar keine Schokolade, auch keinen Kaffee«, sagt Stadtführerin Schulz. Allerdings habe sich Luther schon immer gut vermarkten lassen. »Die Gemälde, die Lucas Cranach der Ältere von ihm schuf, verkauften sich gut.«
Mehr als eine Million Luther-Quietschenten
Gleiches gilt für Luther-Quietsche-Entchen und die Luther Playmobil-Figur mit Schreibfeder und Bibel. Sie hat sich über eine Million Mal verkauft. Andere Souveniers greifen einen der wichtigsten Momente der Reformation auf. Als der Mönch vor dem Reichstag in Worms letztmals aufgerufen wurde, seine Thesen zu widerrufen, reagierte er sinngemäß mit den Worten »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«.
Daraufhin wurde Luther für vogelfrei erklärt. Heute ziert der epochale Ausspruch Luther-Socken und Luther-Sneaker im Stil der Converse-Chucks. Der Mönch selbst trug in Worms eine Kutte. Das mutmaßliche Original hängt im Wittenberger Lutherhaus hinter Glas – keine einzige Faser könnten Reliqienjäger ihm entreißen.
Informationen zu Martin Luther und seinen Reliquien
Wittenberg: Lutherhaus, Eintritt Erwachsene 10 Euro, ermäßigt 8 Euro.
Eisenach: Ein geführter Rundgang auf der Wartburg Lutherstube kostet 12 Euro.
Eisleben: Das Kombiticket für Luthers Geburtshaus und sein Sterbehaus, in dem auch der Eintritt ins Elternhaus in Mansfeld enthalten ist, kostet 10 Euro.
Reiserouten: Durch Thüringen und Sachsen-Anhalt aber auch Bayern, Sachsen und Hessen führt der Lutherweg. Reiserouten auf den Spuren des Reformators finden sich auf der Webseite.
Unterkunft und Restaurants: In Wittenberg gibt es eine Vielzahl an Hotels in mehreren Preisklassen, darunter das Luther-Hotel, DZ/Frühstück ab 100 Euro. Neben der Schlosskirche befindet sich eine Jugendherberge, Übernachtung/Frühstück ab 25 Euro. Das Hotel-Restaurant Alte Canzley gegenüber der Schlosskirche veranstaltet regelmäßig »Luthermahle« mit Schauspiel und zeitgenössischen Speisen für 39 Euro p.P.. Einen fantastischen Blick auf die Wartburg bietet das Berghotel Eisenach mit exzellenter Küche, DZ/F ab 130 Euro. Direkt im zum UNESCO Welterbe Wartburg gehörenden Wartburghotel kostet das DZ ab 199 Euro.
Text und Fotos: Stefan Weißenborn, zuletzt aktualisiert im Januar 2023.
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