Klischees und Missverständnisse können die jecken Tage in Köln erheblich beeinträchtigen. Mit Hilfe dieser kleinen Gebrauchsanleitung für den Kölner Karneval aber sollte auch Ortsfremde und Neulinge sie meistern können.
Der Ausnahmezustand hat viele Gesichter. An den sechs Tagen zwischen Weiberfastnacht und der Verbrennung des Nubbel um Mitternacht vor Aschermittwoch kulminiert er stets darin, dass eine viel zu große Menge Menschen in oft aufwändig hergestellten Verkleidungen auf den Tischen eines Lokals tanzt, in jedem Winkel schunkelt und lauthals Lieder mit recht speziellen Texten grölt. Quer durch alle Altersklassen und jede Gesellschaftsschicht.
Kölsch und Katholizimus
Niemand fragt sich in solchen Augenblicken, warum er sich schwitzend in einem Tierkostüm befindet, mit wildfremden Personen des anderen oder auch des gleichen Geschlechts tanzt. Beseelt von etlichen Kölsch, beruft man sich stattdessen lieber auf den katholischen Charakter der Stadt. Und das kommt – wenigstens in diesem Zustand – in der kollektiven Wahrnehmung auch der Fähigkeit zur Vergebung gleich. Für nicht wenige beinhaltet der Karneval eine Art Generalamnestie, der sich so äußern kann, dass Ehen oder Partnerschaften kurzfristig nicht mehr zählen. Unabhängig davon aber, ob die Sünden einen Gang zum Beichtstuhl nach sich ziehen, gilt getreu eines etablierten Liedes aus dem Karnevals-Kanon die Devise: „Am Aschermittwoch ist alles vorbei, die Schwüre von Treue, sie brechen entzwei.“ Dies freilich bezieht sich dann auf die jecken Tage.
So bleiben die Kontaktanzeigen in den Tagen und Wochen danach meist unbeantwortet. Und der Karneval endet mit der Erkenntnis: »Oh, ich bin ja doch noch interessant für andere.« Auch wenn es nur wahrnehmungsbeeinträchtigte Desperados sein mögen. Nicht wenige Beziehungsexperten denken, dass dies den Jecken für den Rest des Jahres genügt, um sich in Treue zu üben.
Gebrauchsanleitung für den Kölner Karneval
Dabei ist es dem Einzelnen natürlich unbenommen, seine eigenen Grenzen zu definieren und durchzusetzen. Und wenn man für das persönliche Dafürhalten über die Stränge geschlagen hat, bleibt immer noch der Nubbel, ein Sündenbock in Form einer Puppe, auf dem man sämtliche Schuld abladen kann. »Wer hat dafür gesorgt, dass mir diese Squaw mit dem Mund auf die Lippen gefallen ist?« Genau!
Doch der Reihe nach: Wenn die Tage kurz werden, nimmt die Nervosität des Jecken sichtbar zu. Denn so unvorhersehbar der Karneval für den Einzelnen sein kann, so generalstabsmäßig sind die Vorbereitungen. Schon bald nach Aschermittwoch bringt sich das Personal für die kommende Session in Stellung. Schließlich kann sich nur ein Mann pro Jahr den Traum erfüllen, einmal Prinz zu sein, in Kölle am Rhein. Es sei denn, die Bewerber nehmen irgendwo im Umland mit der Würde des höchsten Amtes vorlieb.
Makelloses Ornat
Die kommende Aufgabe übrigens erfordert eine seriöse Vorbereitung: es warten Hunderte – nicht alle gleichermaßen glamouröse – Termine auf das Dreigestirn, das zudem Jungfrau und Bauer umfasst. Für die Würdenträger gilt es stets, in makellosem Ornat zu erscheinen und einen gesunden Eindruck zu hinterlassen. Daher wird das designierte Dreigestirn vom Festkomitee Kölner Karneval schon im Sommer vorgestellt. Danach vergehen bis zum Start der Session noch vier lange Monate. Ausreichend Zeit für Konditionsübungen jedweder Art – und Freiraum genug, um die Gebrauchsanleitung für den Kölner Karneval nochmals zu studieren.
Das Datum des 11.11. weist auf die weniger subtilen Facetten des Frohsinns hin. Die fünfte Jahreszeit baut konsequent auf Schnapszahlen, weshalb sie auch pünktlich um 11.11 Uhr beginnt. Auch feiern die vielen Karnevalsvereine ihre Jubiläen stets im 44. oder 66. Jahr ihres Bestehens. Wer einen etwas nüchternen Ansatz für das Datum des Sessionsauftakts sucht, wird auch fündig: An besagtem Tag dauert es noch weitere 50 Tage, bis das Jahr zu Ende ist. Ein veritables Etappenziel bei der Vertreibung der bösen Geister des Winters – dem ursprünglichen Sinn und Zweck des Straßenkarnevals.
Am Aschermittwoch ist alles vorbei
Nach der Sessionseröffnung in der Altstadt ziehen die Jecken erstmals in die einschlägig bekannten Hochburgen, wo sich schon der Auftakt bis tief in die Nacht hineinziehen kann. Bald nun laden die Karnevalsgesellschaften zu ihren Sitzungen. In Sälen oder Zelten sitzen die häufig mit Narrenkappen ausstaffierten Jecken auf Stühlen und Bänken, um den rhetorisch aufgeladenen Späßen von Büttenrednern zu lauschen, die knapp beschürzten Funkemariechen bei ihren akrobatischen Tanzeinlagen zu beobachten, oder zu etablierten Mundartformationen wie den Bläck Fööss, den Höhnern oder Brings zu schunkeln – und manchmal auch zu hüpfen. Oder wie auch immer man das nennen möchte. Dahinter steckt eine regelrechte Unterhaltungsindustrie lokaler Ausprägung, denn die beliebtesten Formationen erhalten für Auftritte von 30 Minuten Länge 3000 Euro und mehr.
Kölner Selbstbesoffenheit
Diese Abende enden unweigerlich in rauschhaftem Zustand. Der langjährige Direktor des Museum Ludwig, Kaspar König, diagnostizierte nicht nur einen lokalen Hang zum Alkohol, sondern auch eine Kölner Selbstbesoffenheit. Mit dem Terminus ist ihm die Kreation eines geflügelten Wortes gelungen, das zugleich die dichterische Basis für den Liederkanon treffend erklärt. Wie sonst könnten Hunderte von Liedern kursieren, die inhaltlich vorzugsweise darum kreisen, dass Köln die schönste, tollste, freundlichste oder auch »geilste« Stadt nicht nur Deutschlands, sondern gleich der ganzen Welt ist.
Der Liederkanon übrigens wächst beständig. Neuester Austrieb ist ein Wettbewerb namens »Loss‘ mer singe«. Dabei handelt es sich um eine Vorauswahl potenzieller Hits, die eigens für die bereits laufende Session geschrieben werden. Das Programm wird anschließend zwischen Rodenkirchen und Niehl und zwischen Weiden und Porz in einschlägig bekannten Feierhochburgen vorgestellt. Neuerdings gibt es Vorausscheidungen auch in unkarnevalistischen Metropolen wie Berlin, Hamburg und München. Im Falle sofortiger Massenkompabilität singt das Publikum spontan lauthals mit. Abschließend wird im Stile eines Song-Contests der Sieger gekürt. Ein großer Spaß, für den es in Köln rechtzeitig Karten vorzubestellen gilt.
Euphorie an Weiberfastnacht
Aus Respekt vor der Adventszeit und den anschließenden Feiertagen geht es im Dezember eher ruhig zu. Doch kurz nach dem Jahreswechsel nimmt der Sitzungskarneval wieder an Fahrt auf. Nun werden im Umland die letzten Prinzen gekrönt – und je nach Datum des Sessionshöhepunkts müssen jetzt nicht mehr all zu viele Wochen totgeschlagen werden. Die Berechnung des Karnevalsdatums richtet sich passenderweise nach dem Mond, denn Aschermittwoch liegt stets 46 Tage vor Ostersonntag. Dieser wiederum ist auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling datiert.
Wenn es endlich so weit ist, müssen zunächst die Krawatten der Bürohengste dran glauben. Ab 11.11 Uhr dürfen – gendermäßig waren die Kölner schon immer fortschrittlich – zunächst die Damen ran, oder, wie es der Kölsche sagt, die Wiever, die dieses Privileg mit der rituellen Schlipskürzung feiern. Ab diesem Moment kann der Rest der Welt getrost vergessen, seine rheinischen Geschäftspartner im Büro anzutreffen. Das öffentliche Leben liegt nun ebenso wie der Berufsalltag lahm. So gesehen ist es auch für Auswärtige ratsam, die Gebrauchsanleitung für den Kölner Karneval zu kennen.
Auf die richtige Kneipe kommt es an
Nach dem närrischen Auftakt unter freiem Himmel gilt es, die Kneipe seines Vertrauens zu finden – und mitunter mehrere Stunden vor dem auserkorenen Lokal auszuharren, weil schon genug andere dieselbe Idee hatten. Vom ursprünglichen Plan abzuweichen, bringt wenig, denn vor den guten Adressen, in denen das Bier fließt und wo die ungeschriebenen Gesetze weitgehend beachtet werden, herrscht überall ähnlicher Andrang.
Besucher halten sich am besten an die Empfehlungen der Einheimischen ihres Vertrauens – oder sie suchen die hier genannten Geheimtipps auf: Den Weißen Holunder am Rande des Belgischen Viertels von Köln, das Backes oder den Mainzer Hof in der Südstadt, das Brauhaus Stüsser im Agnesviertel, oder – wenn man es größer und zentraler mag – die Brauhäuser von Gaffel oder Peters. Die größte Party steigt stets in der Lanxess Arena, wo sämtliche Stars des Karnevals mit Kurzauftritten aufwarten.
Am Samstag beginnt der Straßenkarneval
Wer muss, schleppt sich am Freitag für wenige Stunden zum Arbeitsplatz, ob der Ausflug produktiv wird, ist eine andere Frage. Der Abend verläuft ähnlich wie der vorherige – meistens wird in der Südstadt am längsten gefeiert. Am Samstag dann beginnt mit den ersten Veedelszügen der Straßenkarneval. Eine Besonderheit ist der Geisterzug, der sich am Abend – bei eisernem Verzicht auf Kamelle – Jahr für Jahr einen anderen Weg durch die Stadt bahnt. Dieser Zug ist nicht nur jeck, sondern auch politisch. Initiiert wurde er als Antwort auf den Ersten Golfkrieg 1991, als alle anderen Züge abgesagt wurden.
Kurz vor Fastenzeit
Der Höhepunkt freilich bleibt der Rosenmontagszug, der mit aufwändig dekorierten Mottowagen und kostümierten Fußgruppen sieben bis acht Stunden lang durch Köln zieht – vorbei an Millionen Zuschauern, von denen sich nicht wenige einen Jahresvorrat an Süßigkeiten sichern. Auch in den Kneipen gerät dieser Tag zur Apotheose. Wer dann noch Energie übrig hat, schleppt sich am Dienstag zu den letzten Zügen – zum Beispiel nach Ehrenfeld oder in die Südstadt.
In den Kneipen gilt es nun die letzten Bons zu verbraten, ehe sich der Jeck mit der Verbrennung des Nubbels die rituelle Selbstabsolution einholt. Die Strohpuppe mit den roten Haaren wird in Köln traditionell für alle Sünden verantwortlich gemacht. Wer danach in der Fastenzeit bis Ostern die Finger von allen irdischen Versuchungen lässt, liegt bei der Selbstreinigung ganz weit vorne.
Weitere Informationen zum Kölner Karneval
Schau auf die Webseite von Köln Tourismus.
Text und Bilder zur Reportage über die kleine Gebrauchsanleitung über den Kölner Karneval: Ralf Johnen.
Die Geschichte entstammt meinem Reiseführer »Köln«in der Reihe Merian Momente, in dem mein Redakteur mir dankenswerterweise vier Seiten für den Kölner Karneval freigeschaufelt hat.
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