Die Schiffe der Hurtigruten fahren bis in den äußersten Norden. Die Polarnacht im norwegischen Kirkenes so lang, wie die Grenze zu Russland nah ist.
Es ist kurz vor 9 Uhr morgens. Ich nähere mich dem Wendepunkt der Hurtigruten. Es ist nicht ansatzweise so dunkel, wie ich vermutet hatte. Schließlich sollen heute an diesem Ort hier zum letzten Mal Sonnenstrahlen zu sehen sein, ehe sich die populäre Licht- und Wärmequelle für die nächsten 50 Tage verabschiedet.
Mit der MS Finnmarken zum Wendepunkt der Hurtigruten
Noch befinde ich mich an Bord der MS Finnmarken. Nach vier Tagen auf See, wird meine Reise hier enden. Der Hafen von Kirkenes ist Wendepunkt der Hurtigruten. »Sieh bloß zu, dass Du da weg kommst«, hatte es einhellig auf meine Frage geheißen, ob es sich wohl lohne, die Nacht vom 26. auf den 27. November in dem Hafendorf an der russischen Grenze zu verbringen. Erst im Februar oder im März sei die Hafenstadt einen Zwischenstopp wert.
Weil der Ratschlag so einstimmig war, bin ich noch neugieriger geworden. Als sich auch herausstellte, dass den Winterkreuzfahrern auf 69 Grad und 44 Minuten Nord abgesehen von einer Bus-Expedition zum »eisernen Vorhang« keine Aktivitäten angeboten werden, bedurfte es nur noch weniger Mausklicks, bis das Hotel gebucht war. Kein Eishotel, wie es zur Beherbung von Touristen neuerdings üblich ist, sondern ein Business-Hotel.
Mit dem Bus zur russischen Grenze
Vorab hatte ich mich insgeheim auf minus 30 Grad und Armageddon-artige Zustände gefreut. Aber nach einem Balanceakt mit Rollkoffer über einen Eispanzer am Einstiegshafen Bodø war ich da nicht mehr so scharf drauf. Tatsächlich ist es nur knapp unter Null, windstill und – ziemlich hell! Auch ohne Sonne.
Selbst am 21. Dezember, dem kürzesten Tag des Jahres, wird es nicht vollständig finster bleiben. Meine erste Diagnose nach dem Check-in im Hotel lautet: Ich habe vielleicht doch vergleichsweise normale 24 Stunden vor mir.
Die Fahrt mit dem Bus zur russischen Grenze schenke ich mir, obwohl mir der Name des Ausrichters gefällt: Boreal Transport. Klingt martialisch. Aber ein Grenzübergang mit Ostalgie und angeschlossenem Gift-Shop? Viel zu trashig. Stattdessen lieber ein Spaziergang. Der Hafen-Pub, der in einem Anflug nicht haltbar Superlativierung irgendwo als nördlichster der Welt angepriesen wird, ist am späten Vormittag verständlicherweise geschlossen. Also ziehe ich durch den Ort, der sich in Sachen Abgeschiedenheit durchaus des ein oder anderen bemerkenswerten Details rühmen darf: Allein bis in die Hauptstadt Oslo sind es 2502 Kilometer.
Kirkenes hat 5000 Einwohner – und eine Shopping-Mall
Kirkenes hat so um die 5000 Einwohner. Das reicht, wie ich sehe, um die Existenz eines Sonnenstudios zu sichern. Die in der Shopping-Mall untergebrachte Apotheke ist ganz offensichtlich auch auf Besucher aus dem nahen Nachbarland eingestellt. Und in der – eher spärlich besuchten – Fußgängerzone wird gar Zweisprachigkeit gelebt. Zu guter Letzt staune ich nicht schlecht, dass der deutsche Staat hier im Nordosten Norwegens den Dienstsitz eines Honorarkonsuls unterhält. Das nenne ich Gründlichkeit.
Kurz darauf werfe ich misstrauische Blicke auf eine pakistanische Pizzeria. Trotz dieser Kuriositäten weiß mich das Stadtleben an diesem Novembertag nicht lange zu fesseln. Also steige ich den Hügel ins Wohngebiet hinauf, in die Suburbs sozusagen.
Zunächst graue Reihenhäuser, weiter oben bunt getünchte Villen mit Türmchen, Erkern und Pavillons. Wie fast überall auf der Welt. Nur nicht klein und spartanisch, wie ich das angesichts der Abgeschiedenheit vermutet hätte. Bis nach Bergen, den wohl lebendigsten Ort Norwegens, sind es immerhin 2626 Kilometer.
Drei prächtig nordische Tage auf der MS Finnmarken
Mein Blick fällt auf die MS Finnmarken, die mir drei prächtig nordische Tage beschert hat. Das immer noch schönste Schiff der Hurtigruten fährt gleich zurück in Richtung Bergen, das auch im Winter von Sonnenstrahlen getroffen wird. Mit einer noch hungrigen Ladung Polarlicht-Touristen. Abenteuer Light. Zumindest in Kirkenes scheint sich außer mir niemand mit der Frage zu beschäftigen, wie es wohl die nächsten 50 Tage so sein wird. Ohne Sonnenschein.
Hätte ich ein Auto, wäre ich nun vielleicht der Versuchung erlegen, zum Dreiländereck zu fahren. Außer Russland ist auch Finnland nur ein paar Kilometer entfernt. Stattdessen nutze ich das verbleibende Tageslicht für einen Ausflug in den Schnee. Bis ganz nach oben schaffe ich es nicht. Die Spitze ist eingezäunt. Also gehe ich auf der anderen Seite wieder hinunter.
Beleuchtete Loipen in Nordnorwegen
Vor mir liegt ein im Winter verlassenes Hotel. Dahinter breitet sich ein zugefrorener See aus, der das Licht der schon längst eingebrochenen Dämmerung absorbiert. Auf der beleuchteten Loipe zieht eine Joggerin ihre Runden (hier geht es zu meiner Geschichte über eine Nacht auf der Pistenraupe in Norwegen). Damit die Nordnorweger auch ohne Sonne fit bleiben, wird nicht an Licht gespart.
Auf dem Rückweg sehe ich ein kastenförmiges Gebäude, das mich an eine Bibliothek erinnert. Ich gehe hinein. Es ist das Grenzlandmuseum, das auch gelegentlich von Kreuzfahrern aufgesucht wird. Die Ausstellung beginnt im Jahr 1940: Die Deutschen haben Nordnorwegen besetzt.
Die Polarnacht im norwegischen Kirkenes
Sie verfrachten Zehntausende Soldaten an die russische Grenze. Zudem verlegen sie Telefonkabel. Sie haben Verhältnisse mit norwegischen Frauen. Die gemeinsamen Kinder werden noch Generationen später geächtet. Der aus dem Jahr 1944 stammende Plan zur Einnahme von Murmansk misslingt. Die Deutschen zünden bei ihrem Rückzug alles an, was sie nicht zurücklassen wollen. Russische Bomben erledigen den Rest. Daher stehen in Kirkenes keine alten Häuser. Und vielleicht hat auch die Anwesenheit des Honorarkonsuls historische Gründe.
Gegen 16 Uhr – es ist stockfinster in Norwegen – erreiche ich das Hotel. Was mache ich mit dem angebrochenen Tag? Für ein Polarlicht-Bier ist es definitiv zu früh. Doch meinen Körper verlangt es nach Schlaf. Eine natürliche Reaktion auf die Dunkelheit.
Suche nach dem Polarlicht
Nach zwei Stunden in Skiunterwäsche unter der Bettdecke wache ich auf. Ich gehe im Hotel essen: Lutefisk, eine traditionelle Trockenfischzubereitung, die erst in Birkenasche eingelagert wird, um später unter Hinzufügung von Wasser wieder schmackhaft gemacht zu werden.
Obwohl ich mich anfangs dagegen sträube, ziehe ich vor der Suche nach dem Polarlicht meine Winterklamotten wieder an. Ich will meine Liste der chronisch erfolglosen Expeditionen um eine Episode erweitern, indem ich abermals auf einen Hügel steige. Als ich oben bin, halte ich vergeblich danach Ausschau. Dann beginne ich aus irgendwelchen Gründen an die Krimis von Stieg Larsson zu denken. Ich bekomme eine Gänsehaut. Doch hier oben auf dem windigen Berg in Nordnorwegen begegnet mir niemand. Ich blicke in Richtung Osten und denke: Das Licht da hinten, das kommt bestimmt aus Russland.
Müde und durchgefroren lege ich mich wieder ins Bett. Der arktische Wintertag hat sich gelohnt. Aber ich würde Nordnorwegen das nächste Mal lieber während der Mitternachtssonne sehen. Oder unter einem Zelt aus Polarlicht.
Informationen zur Polarnacht im norwegischen Kirkenes
Fast alle Besucher kommen an Bord der Hurtigruten nach Kirkenes. SAS und Norwegian fliegen mehrmals täglich von Oslo in den hohen Norden. Daher nutzen viele Hurtigruten-Passagiere mit begrenztem Zeitkontingent Kirkenes als An- oder Abreiseort.
Beide große Hotelketten Norwegens (Thon und Rica) unterhalten Hotels in Kirkenes, die Übernachtung im Winter ist mit 100 bis 150 Euro recht bezahlbar.
Die Überquerung der Grenze nach Russland ist zurzeit wegen des Kriegs in der Ukraine nicht möglich.
Weitere Informationen zur Polarnacht in Kirkenes auf der Webseite der Region.
9 Comments
Sind am 27.12.22 von Kirkenes nach Bergen mit der Havila. Leider nur 2 mal ein schwacher grüner Schimmer am Himmel. Nichts desto Troz, die Stimmung ist einfach bezaubernd.
Indertat, ein beeindruckendes Erlebnis dort oben.
Wir sind in diesen Sommer nach Kirkenes gefahren. Mit dem Auto. 4 Tage. 3500 km. Am 21 Juni haben wir bei schönsten Wetter oberhalb des Hafens kampiert. Meine Schwester war die Woche vorher mit den Hurtigruten da und es lag Schnee. Wir hatten 17 Grad Mitternachtssonne und einen wunderschönen Ausblick über den Fjord. Wenn man von Süden Kommt über Finnland, sieht die Landschaft bei Sonnenschein sehr italienisch aus. Sind auch an dem Tor zur russischen Grenze gewesen. Nur 130 km bis Murmansk. ABer die Formalitäten. für Norweger da oben kein Problem. Den Bericht über die komplette Reise findest du unter http://www.tourmann.de . Tour nach Kirkenes.
Oh ja…
Von der Suche nach und dem Warten auf das Polarlicht kann ich auch ein Lied singen.
Bei bis zu -16 Grad bis früh morgens um 05:00 Uhr ausgeharrt um doch nichts zu sehen.
Und das Ganze 2 Nächte hintereinander…
Dennoch – allemal eine Reise wert…
Grüße…
So ist es, Ralph: Naturphänomene gibt es nicht auf Bestellung. Und somit bleiben auch für die Zukunft noch Herausforderungen. Stay tuned, Ralf
wirklich sehr schöner Artikel 🙂 Ich überlege tatsächlich gerade, ob ich auf meiner Weltreise Norwegen mit einplanen soll.. 🙂
Ja, Nordnorwegen ist ziemlich abgefahren. Im winter, aber bestimmt auch im Sommer. Viel Spaß dort!
Wow, einfach nur spannend! 😀
Wäre mir zwar eindeutig zu kalt aber wer träumt nicht von Polarlichtern. 😉
Liebe Grüße
Christina
Danke, Christina. Das Licht im Norden kompensiert die Kälte eindeutig – und es muss nicht einmal Polarlicht sein. Grüße, Ralf